Wir befinden uns in einer Schicht über den Vergangenheiten.
All das, was bereits geschehen ist, liegt unter uns, gestapelt. Lage für Lage
stapelt die Vergangenheit sich unter uns, wie eine geologische Gesteinsformation. All die Leben und Tode, die Taten
und Untaten, sind da und bilden das psychische Gelände, auf dem wir unseren Lebensweg
zurück legen. Wenn wir aufmerksam sein können, so aufmerksam, wie es uns nur
irgend möglich ist, dann können wir diese Schichten erspüren.
Das vergangene Wochenende war für mich ein Wochenende
der französischen Schriftstellerin und Filmemacherin Ruth Zylberman. Am
Freitagabend begann ich ihr Buch Vermisstenstelle zu lesen, das gerade im
Secession Verlag erschienen ist.
Am Samstag kam sie selbst nach Berlin und stellte im
Neuköllner Kino Wolf ihren neuen Dokumentarfilm 209 Rue St. Maur, Paris, 10Ème, The Neighbors – vor.
Sowohl in diesem Film als auch in ihrem Buch geht es um
Topographie, um das Gelände oder auch den Raum, in dem wir leben, der gestaltet
wurde durch das, was zuvor in ihm geschehen ist, was sozusagen darunter sich
befindet, und auch um den Raum herum, in so vielen Schichten, die verschüttet
sind. Wenn man in aller Stille und mit großer Aufmerksamkeit gräbt, kann man
die Schichten finden und sie sprechen zu einem. Ruth Zylberman ist unglaublich
aufmerksam. Das ist vielleicht die erste Eigenschaft, die mir an ihrem Werk,
dann auch an ihrer Person, aufgefallen ist. Sie ist so aufmerksam, dass sie die Stimmen der Wände zu enthüllen vermag, welches uns umgeben. Ein scheinbar normales Haus erzählt ihr seine Geschichte. Sie ist so aufmerksam, dass sie in Berlin das Leben Rosa
Luxemburgs spürt. Ich glaube, sie spürt überall die Leben, die vor ihr da
waren.
Vor ein paar Jahren saß ich einmal mehrere Stunden im Raum
der Namen, das ist ein Teil des Denkmals für die ermordeten Juden hier in Berlin. Die Namen
aller ermordeten Menschen werden genannt und erscheinen schwarz auf weiß auf einer Leinwand. Die Einzelheiten, die man von
ihnen weiß, werden erzählt. Bei manchen ist es so gut wie nichts. Bei manchen erfahren wir etwas
mehr. Man könnte sehr lange dort sitzen und kein Name würde sich wiederholen.
Immer noch sind nicht alle erfasst, die ermordet wurden. Man kann übrigens spenden.
Zur Erstellung einer Biografie benötigen die Wissenschaftler circa 60€. Denn
sie müssen die Schichten durchforsten und sehen, was sie von Rashid, Leonid,
Mascha außer ihren Namen noch an die heutige Oberfläche holen können. Wie alt
waren sie? Wann wurden sie deportiert? Wo kamen sie als erstes hin? Hatten sie
einen Verlobten, Kinder, eine Ehefrau, eine Arbeit?
Ruth Zylbermans Film ist ein wenig wie dieser Raum. Sie findet die Geschichten, die das Haus in der Rue St. Maur zu erzählen hat.
Jene Menschen, die
man noch direkt befragen kann, werden weniger. Bald wird es niemanden mehr
geben, der den Holocaust erlebt hat. In dem Gespräch, welches die Übersetzerin
Patricia Klobusiczky nach dem Film mit Ruth Zylberman führte, sagte sie an
einer Stelle: „Ich habe keine Pflicht zur Erinnerung.“
Wie kann man einen Raum (ein Haus, eine Stadt, diese Erde)
bewohnen, wenn in der Vergangenheit eigentlich alles daran gesetzt wurde, einen
zu vernichten, einem jedes Recht auf ein Leben abzusprechen. Wenn es einen eigentlich
gar nicht geben sollte? Das ist vielleicht eine Art Grundfrage der Arbeit Zylbermans.
Ein Haus, eine Stadt, diese Erde sind wie Mütter, in deren
Leib man sich geborgen fühlt. Oder auch nicht. Denn alles, was geschah, ist da,
ist spürbar.
Die Wahl auf genau dieses Haus im jüdischen Bezirk von Paris
fiel zufällig und hat mit ihrer eigenen Geschichte, die derjenigen der Kinder,
die überlebten, so nah ist, nichts zu tun. Mit Absicht wählte sie ein fremdes
Haus und nicht zum Beispiel eines, in dem ihre Mutter, die Bergen-Belsen
überlebt hat, als Kind gewohnt hat.
Anhand alter Listen des Einwohnermeldeamtes konnte sie
Schritt für Schritt, wie in einem Puzzle, rekonstruieren, wer in den 30er und
40er Jahren in diesem Haus gelebt hat. Miniaturmodelle des Hauses, an den
Fenstern die Namen jener, die dahinter gelebt haben. 300 Menschen. Ein Großes
Haus. Viele jüdische Familien, aus verschiedensten Ländern. Exilanten, die aus
Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei nach Frankreich gekommen waren, auf der Flucht vor
Pogromen, Armut, weil für sie Frankreich das Land der Menschenrechte und der
Brüderlichkeit war. In ihrer Vorstellung.
Ruth Zylberman fand die Überlebenden: in den USA, in Nantes,
in Tel Aviv, in Australien, in Paris, und diese Menschen öffneten sich ihr in
einer Weise, die man so nicht erwarten darf. Sie ließen sich befragen und
erinnerten sich, teilweise an Dinge, die sie Jahrzehnte vergessen hatten, weil
der Schmerz viel zu groß gewesen wäre.
Von den ehemals 100 jüdischen Bewohnern des Hauses wurden 52
deportiert. Andere, hauptsächlich einige der Kinder, wurden von Nachbarn
versteckt, oder mit Hilfe von Rettungsorganisationen vor der Deportation
bewahrt.
Alle haben sie ein ganzes Leben und sich selbst verloren.
Auch die Überlebenden. Die Kinder, die zwar gerettet wurden, sahen aber ihre
Eltern nie mehr wieder, ihre Geschwister, sie wussten, wie zum Beispiel der
heute in Amerika lebende Henry, nichts mehr von ihrem früheren Leben. „Ich habe
alles hinter mir gelassen.“ Gerade an seiner Person wird deutlich, wie heilsam
dieser Film für die Beteiligten war. Als er sich endlich ein wenig den von Ruth
nach USA mitgebrachten Erinnerungen und seinen Gefühlen stellen kann, spürt
jeder Zuschauer, wie gut dieser Film ist. Er ist nicht nur gut für den
Zuschauer, er ist auch offensichtlich gut für die daran Beteiligten.
Am Ende des Films treffen sie sich alle im Hof des Hauses in
Paris, sie reisen an mit ihren Kindern und Nachfahren. Sie erkennen sich, sie
umarmen sich, sie erzählen sich noch mehr Erinnerungen.
Mein Gedanke: Bei dem Film geht es nicht ums Erinnern, per
se, sondern es geht um Heilung. Es gibt keine Pflicht, zu heilen. Aber es ist besser, wenn man diesen Weg beschreitet. Ruth Zylberman hat mit diesem Film so viel
Glück und Heilung zu diesen Menschen bringen können und damit auch etwas
universelles geleistet. Denn jede individuelle Heilung heilt den Gesamtraum, in
dem wir alle leben, wenn man bei diesem Bild bleiben kann. Sie erforscht den Raum und dann bringt sie etwas Gutes in diesen Raum hinein und verändert ihn dadurch.
Im Secession Verlag ist nun also Ruth Zylbermans erstes Buch auch
gleich auf Deutsch erschienen, Vermisstenstelle. Am Sonntag, noch ganz unter dem
Einfluss des gesehenen Filmes stehend, beendete ich es beinahe atemlos.
Darin wird die Geschichte einer Frau erzählt, die sich das Leben nehmen möchte,
weil eine Verzweiflung in ihr so groß wird, dass sie sich ihrer nicht länger
erwehren kann. Die Ich-Erzählerin begibt sich im Lauf der Geschichte auf die
Spurensuche dieser Verzweiflung und folgt ihr nach Bergen-Belsen, nach Warschau
und durch die Pariser Straßen, in denen sie aufgewachsen ist, in denen sie im
Jetzt mit einem Mann und einer kleinen Tochter lebt.
Die Mutter der Ich-Erzählerin hat als Kind, gemeinsam mit
Mutter und Schwester, Bergen-Belsen überlebt.
„Mamas Gesicht, schroffer Schutzschild, den ich nach
geologischen Spuren des Kindes absuche, das sie einmal gewesen ist, des Kindes,
das, wie ich weiß, wie ich schon immer gewusst habe, ohne es je erfahren zu
müssen, dem Schnee und der Kälte entronnen ist, vor langer Zeit, aus tiefem
Schnee…mit dem tödlichen Schnee in Berührung gekommen ist, mit den übereinander
gestapelten Leichen….“
Der Vater ist seit der Deportation verschwunden. Dann aber
findet sich ein Dokument des Amtes für vermisste Personen, aus dem hervorgeht,
dass er ebenfalls in Bergen-Belsen war und bei der Befreiung des Lagers durch
die Engländer offensichtlich noch lebte. Sie fährt mit ihrer Mutter nach Bergen-Belsen, um nach weiteren Spuren des Vaters zu suchen. Dort sieht sie, wer ihre
Mutter einmal gewesen ist, im Lagers. Sie sieht die Version ihrer Mutter, die
die Nazis aus einem unschuldigen Kind gemacht haben. „Sie kauerte wie ein Tier,
wie ein Affe, wie ein Wolf, wie ein Hund. Sie war klein wie ein Kind. Sie sah
sich um, und ich erkannte, dass sie die Gegenwart ihrer Schwester, ihrer Mutter
suchte. Sie suchte ihre Meute. Sie hätte jeden Moment ….. unsichtbare
Brotkrümel verschlingen können. Sie hätte aufstehen, über Leichen
hinwegsteigen, diejenigen wegstoßen können, die von ihrer Suppe etwas abhaben
wollten, hätte ein grausames, abscheuliches Kind sein können. …. als ich sie
auf dieser leeren Lichtung sah, …. -, Mama war genau das gewesen, Affe, Wolf,
Hund. … War als Kind grausam und abscheulich gewesen. Das war der Ursprung, das
Brandmal, dem weder ich, ihr Wunder, noch die Häuser von Paris… die
Rettungsversuche gewachsen waren. Hinweggefegt. Die mögliche Heimkehr war ein
Trugbild.“
Die Nazis haben den Menschen ihr Menschsein genommen, indem
sie sie in Situationen brachten, in denen nichts mehr galt, was Menschen untereinander
als Regel anerkennen. Es gab nur Grausamkeit, Brutalität. Selbst Kinder verloren ihre
Unschuld, wurden zu Tätern angesichts des puren Triebes, in diesem Schlachthaus
irgendwie zu überleben. Selten habe ich eine Szene gefunden, in der mir so
deutlich wurde, wie die Nazis die Seelen der Menschen zerfetzt haben.
In ihrem Film sagt ein alter Mann, der als 7jähriger Junge
seine Eltern und seinen Cousin verloren hat und sich fortan vollkommen alleine
durch die Lagerwelt schlagen musste, er sei nie wirklich aus dem Lager zurück
gekehrt, ein Teil von ihm sei für immer dort geblieben.
Ruth Zylberman ist eine der Nachkommen jener Generation, die
die Lager überlebt hat, aber die nie ganz von dort zurückgekehrt sind. Sie
erforscht das Gelände, auf dem sie leben kann und fragt mit ihren Werken, wie
sie diesen Raum bewohnen kann, aus dem sie eigentlich eliminiert werden sollte.
Sie tut dies mit einer Zartheit, einer Zurückhaltung, einer
feinen Sprachlichkeit, sowohl im Buch als auch im Film, dass man nicht einmal
wirklich denkt, es geht um sie. Es ist immer offenbar, dass sie unser aller
Raum abschreitet und erklärt, in Schichten, die so tief sind, dass sie gerade
heute von vielen wieder vergessen scheinen. Sie taucht in die Schichten ein und
ist ganz still. Sie transportiert mit ihren Werken das an die Oberfläche, was
sie findet. Sie macht uns damit ein großes Geschenk.
Das Buch wurde von Patricia Klobusiczky übersetzt, die ich
bereits einmal bei dieser Lesung mit Molly Antopol im Jüdischen Museum erleben
durfte.
Sehr von Herzen danke ich dem Secession Verlag für das
Rezensionsexemplar des Buches.
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