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Buch der Woche - Unrast von Olga Tokarczuk


„Am spürbarsten ist die Starre, sie ist dicht und sichtbar; der kalte Dämmer und das schwache Licht der Natriumlampen, das kaum einen Meter von seiner Quelle schon im Dunkel versinkt.“

Wie entkommt man der Starre?
Ist es einem Menschen möglich, eine Heimat zu finden?
Wo ist diese Heimat? Ist sie ein Ort, oder ist sie ein Platz in uns selbst?
Oder bedeutet Heimat, sich der Starre zu übergeben?
Was ist Heimat?
Was bedeutet Reisen?
Welche Formen der Bewegung, abgesehen davon, dass man sich entweder innerlich rege hält, immer neues lernt, und zum anderen in der Außenwelt herumreist, gibt es noch?
Wo finden wir Sesshaftigkeit?
Ist das überhaupt erstrebenswert?
Kann man sich in etwas beheimaten, das wie eine Idee ist?
Kann man auf einer Insel verloren gehen?

So viele Fragen stellt die wunderbare polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in ihrem Buch Unrast. Nein, eigentlich stellt sie sie nicht. Nicht so explizit wenigstens. Sie schreibt über verschiedene Orte und Menschen, auch über sich selbst. Sie erzählt Geschichten, und beim Lesen fallen mir diese Fragen ein.

Antworten gibt sie mir keine. Oder alle. Das Buch ist wie ein Puzzle. Die Leserin darf etwas selbst zusammen setzen. Im Grunde eine Welt. 
Die einzelnen, teilweise sehr kurzen, teilweise geschichtenlangen Abschnitte tragen Titel wie: Der Kopf in der Welt, Die Nacht einholen oder Die Reisen des Doktor Blau 1 und Die Reisen des Doktor Blau 2.

Ich bin jetzt auf Seite 160. Das Buch hat fast 460 Seiten, also habe ich noch nicht einmal die Hälfte. Also steht mir ein Urteil noch nicht zu.

Aber ein Leseeindruck: Die Sprache poetisch, aber zurückhaltend. Spröde und doch lockend. Klar und doch verschnörkelt. Übersetzt aus dem Polnischen hat es Esther Kinsky. Also ist es auch ihre Sprache und sie passt so gut. Unrast hat für mich eine ähnliche Energie wie Esther Kinskys Hain.
So wie die Kinsky in Hain einen durchs Gelände führt, so führt die Tokarczuk einen in Unrast durchs Gelände. Allerdings ist das Geländer bei Olga Tokarczuk größer, nicht klar abgesteckt. Es sind so viele verschiedene Orte: außen und innen, die sie beschreibt, oder besucht. Die Beweglichkeit des Menschseins und seine Grenzen. Nicht weniger ist meiner Meinung nach das Thema dieses Romans. Die Beweglichkeit des Menschen und die Grenzen, die man sich selbst setzt. Irgendwie die ganze Welt, innen und außen. Was erlauben wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?

Selten habe ich ein offeneres Buch gelesen, welches ein solches Maß an Möglichkeiten anbietet.
Mein vorschnelles Urteil nach weniger als der Hälfte: Ich kann es nicht erwarten, gleich weiter zu lesen.

„Dieser Abend ist der Rand der Welt, ich habe ihn zufällig und absichtslos beim Spiel ertastet.“

Ich möchte es mir erlesen, wie die Autorin sich hinaus tastet über den Rand der Welt, wieder und wieder, ihrer Welt und ich möchte den Mut spüren, den mir das gibt, mich über den Rand meiner eigenen Welt zu beugen und in den Abgrund zu schauen, den es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ein so wunderbarer großer Abgrund. Darin ist alles enthalten und alles möglich.
Die Unrast treibt einen immer wieder dorthin. Man kann nicht ruhig bleiben bei dieser Fülle.
Auch davon handelt das Buch.

Erschienen ist es im Kampa Verlag.

(c) Susanne Becker

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