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Corona Tagebuch (58)

 

August.

Schon August.

Ein Sommer, der als Lockdown begann, scheu und sehnlich erwartet, geht schon wieder seinem Ende entgegen und ich bin nicht dafür bereit. Ich möchte noch so viele Male schwimmen gehen und meine Füße im Gras spüren. 

Seit Wochen arbeite ich mich durch ein Buch von Joseph Goldstein. Ich hatte ihn hier schon mehrfach erwähnt. Er ist für mich ein großer Lehrer, obwohl ich ihn noch nie persönlich treffen konnte. Aber ich höre seine Talks auf Spotify oder anderen Seiten und das Buch Mindfulness. A Practical Guide to Awakening nährt meine Gedanken und auch mein Schreiben. 

Heute fand ich darin ein wunderbares Zitat, das ich mit euch teilen möchte: "One of the many misconceptions we often carry throughout our lives is that our perceptions of ourselves and the world are basically accurate and true, that they reflect some stable, ultimate reality. This misconception leads to tremendous suffering, ...."

Was, wenn immer alles anders wäre, als wir denken?

Schon August.

Der Sommer neigt sich dem Ende. Was diese Zeit kennzeichnet, ist der komplette Mangel an Normalität. Alles ist irgendwie aus der Bahn geworfen. Die Regeln gelten nicht mehr.

Das ist beängstigend. Aber es ist auch spannend.

Der Fehler ist vielleicht, ich spiele mit diesem Gedanken, sich an all dem, was eben noch galt, krampfhaft festhalten zu wollen.

Angesagt wäre es vielleicht, und auch hier spiele ich bislang nur mit dem Gedanken, sich in die Möglichkeiten zu stürzen, die sich ungeahnt aus dieser Unnormalität ergeben.

Für manche Menschen in meinem Umfeld beginnt durch Corona ein neues spannendes Leben. Sie verändern mit einem Schlag alles, wechseln Länder, kündigen Jobs, fangen nochmal bei Null an.

Das Wort Nullpunkt fällt häufig in Konversationen.

Menschen lösen alte Verstrickungen.

Sie trennen sich. Sie ziehen um. Sie kündigen Jobs. Diese Zeit ist wie ein unglaubliches Gewitter und für manche brechen ihre Häuser unter der Last des Unwetters zusammen, sie verlieren alles. Für manche ist das gut. Für einige ist die Luft danach klar und vollkommen rein. 

Es macht keinen Sinn, auf das Ende der Coronazeit zu warten. Dieses Ende wird möglicherweise niemals kommen, oder wenn es kommt, wird es nicht mehr wie vorher sein.

Die Coronazeit ist wie ein leerer Raum, irgendwie noch unbelebt. Unsicher tastet man sich durch die riesigen Räume, an denen noch niemand seine Spuren hinterlassen hat. Sobald man sie mit Vertrautem füllt, gibt es Disharmonie. Es wird offenbar, dass man sich vollkommen neu wird einrichten müssen und können.

Könnte man plötzlich alles neu denken?

Radikale Gedanken denken. Was ist der nächste Schritt in diesem noch unbelebten Raum, in dem es noch nicht so viele Rituale gibt, außer vielleicht jene der Verdrängung? Verdrängung von Angst. Existenzangst. 

Welche Gedanken, welche Schritte wären es für Euch, in diesem Moment Eures Lebens, wenn alles möglich wäre? 

Der Angst die kalte Schulter zeigen und sich trauen, die zu sein, die man immer schon sein wollte.

Wer wäre diese Person und wie würde sie sich in die Zukunft entwerfen?

Möglicherweise werden wir nie wieder einen solchen Freiraum geschenkt bekommen.

Ich glaube, es kann befreiend sein, sich damit abzufinden, dass sich alles tatsächlich für immer verändert hat. Wir sind im freien Flug.

Alles ist dadurch möglich.

Man kann eventuell einfach das tun, was man schon die ganze Zeit tun wollte.

Ich weiß noch nicht genau, was das für mich sein wird. Aber ich merke, wie ich etwas auf der Spur bin. 

Es ist so wunderbar, mit den offenen Fragen zu sein.

Meine lautet gerade: Was ist der nächste Schritt? Ich genieße es, mit der Ungewissheit zu sein. Der Antwort erlauben,  sich langsam zu enthüllen und sie nicht herbei zu zwingen. 

Ansonsten habe ich heute Morgen begonnen, das Buch "Die Scham" von Annie Ernaux zu lesen. Es ist vor fünf Tagen bei Suhrkamp erschienen und handelt von einem Schlüsselerlebnis ihrer Kindheit: ein Sonntagmittag, an dem ihr Vater ihre Mutter töten wollte. Dieser Vorfall hat in ihr eine große Scham ausgelöst, die ihr Leben geformt hat. Denn von diesem Moment an war ihr klar, dass sie nicht zu den feinen Leuten gehörte, wo so etwas niemals geschehen würde. Wo alle in Sicherheit und Glück leben. Ein Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Man sollte wirklich alle ihre Bücher lesen. Sie ist großartig.

Beendet habe ich gestern Abend "Winter" von Ali Smith. In dieses Buch bin ich zunächst sehr schwer hinein gekommen. Aber irgendwann packte es mich, die Geschichte einer Familie, die gleichzeitig die Geschichte von heute ist. Niemand, so scheint es mir, schreibt gerade so aktuell über das Hier und Jetzt, politisch und dennoch zutiefst persönlich. Jetzt fehlt mir nur noch "Sommer", das ja erst noch erscheinen muss, dann habe ich die Jahreszeitenbände von Ali Smith durch. Auch sie eine ganz große Wortkünstlerin. 

Heute morgen war ich schwimmen. Im Regen. Es war so schön. Wir hatten die Badestelle komplett für uns. Das Wasser war warm. Zwischendurch kamen Sonnenstrahlen durch und es war nicht kalt. Eigentlich hatte ich mir diesen Sommer vorgenommen, in zwanzig verschiedenen Seen zu schwimmen. Aber bis jetzt sind es erst fünf gewesen und ich kehre immer wieder zu der vertrauten Badestelle zurück, an die ich schon fahre, seitdem meine Kinder sehr klein waren.

In Österreich hat mir mein Freund Robert übrigens dieses unglaublich schöne Musikstück vorgestellt. Rameau: Les Indes galantes,  dirigiert von Teodor Currentzis. So wunderbar!

Und wer von ihm nach dieser Kostprobe noch nicht genug hat, hier noch einmal fast anderthalb Stunden. Rameau und Currentzis



Ich wünsche Euch ein sehr schönes Wochenende.

(c) Susanne Becker


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