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Corona Tagebuch (66)

 Am Samstag lag endlich auch in Berlin Schnee. Nachdem ich voller Neid seit Wochen Bilder aus Madrid, München oder der Eifel anschaute, auf denen die Menschen Schneemänner bauten und sich Schneeballschlachten lieferten oder mit Langlaufskiern auf normalerweise dicht befahrenen Straßen entlang glitten, lagen auch bei uns, nun, ich würde schätzen, fünfundzwanzig bis dreissig Zentimeter Neuschnee, der ab 8 Uhr auch wieder anfing, laut tropfend zu tauen.

Egal. Ich überredete die Tochter, morgens mit mir zum Bäcker zu gehen, wir machten eine Schneeballschlacht und fanden einen Baum, an dem mit blauer Flüssigkeit gefüllte Flaschen hingen. Es sah magisch und wunderschön aus vor dem Hintergrund des weißen Schnees.

Irgendwie erinnert mich dieser Baum
an Pipi Langstrumpfs Flaschenbaum


Am Sonntag schien dann sogar die Sonne. Der Schnee war noch nicht ganz geschmolzen und den ganzen Tag über war der Himmel knallblau. Keine Ahnung, wann wir den letzten wirklichen Sonnentag hier gehabt haben, aber ich würde schätzen: Anfang Dezember.

Ich fuhr also Richtung Treptower Park, stellte mein Fahrrad ab und bewegte mich mit gefühlt zwei Millionen weiteren sonnensüchtigen Berlinern um den Karpfenteich herum. Dort ging ein Mann mit roter Badehose schwimmen. So etwas beeindruckt mich immer wahnsinnig. Weil ich es gerne tun würde, aber es nicht tue. Das ist so, wie mein allabendlicher Plan, am nächsten Morgen und ab dann jeden Morgen, um halb 6 Uhr aufzustehen. Sobald der Wecker morgens klingelt, finde ich diesen Plan hanebüchen, offensichtlich von einer Irren gefasst. Ich stehe dann wieder, wie immer, erst um halb 9 auf und ärgere mich, weil ich die herrlichen frühen Morgenstunden verpasst habe. Genauso ärgere ich mich im Sommer sicher wieder darüber, dass ich im Winter nicht ein einziges Mal schwimmen war und ich denke, ich sollte eventuell langsam akzeptieren, wer ich bin: eine Frostbeule, die gerne ausschläft und sich am wohlsten ab 9 Uhr morgens und bei mindestens 25 Grad Celsius fühlt. Mein Selbstbild ist anders und gerade erst wird mir das so richtig bewusst. In meinem Bild von mir selbst gehe ich natürlich im Winter quasi täglich schwimmen und zerschlage im Notfall das Eis mit einem eingesteckten Hammer und ich stehe auch selbstredend jeden Morgen früh auf, meditiere, grüße die Sonne mit Yoga beim Aufgehen und sitze ab 7 poetisch am Schreibtisch. 

Frage: Belügen sich alle so, oder bin es nur ich?

Antwort: Egal. Lass es in jedem Fall. Es stresst nur unnötig.

Könnte ich mich einfach so akzeptieren, wie ich bin und ab jetzt auch dementsprechend leben?

Ich sage es ganz ehrlich, dass mir Corona und die entsprechenden Maßnahmen langsam ans Eingemachte gehen, weil ich das Ende nicht sehe. Würde mir jemand klipp und klar sagen, im Sommer 2022 haben wir die Sache im Griff, wäre ich unter Umständen bereit, mich noch weitere anderthalb Jahre zusammen zu reißen. Das kann aber niemand. Niemand kann wirklich etwas sagen. Ist hier gerade extremes learning by doing. Für alle. Deshalb mache ich auch niemandem Vorwürfe. Aber ich merke in mir selbst, wie mir der Atem ausgeht und ich bin ein geduldiger Mensch und also gebe ich mich nicht damit zufrieden, dass er mir ausgeht, sondern denke darüber nach, was ich tun kann, um ihn zu verlängern.

Heute besuchte ich eine Freundin, die einen Laden hat. Er heißt Friedahain und es gibt dort Stoffe und tausend andere wunderbare Dinge. Ihr könnt dort übrigens bestellen, falls Ihr nähen wollt. Nähen ist ja auch eine tolle Beschäftigung für diese etwas trostlose Phase. Sie ist jeden Tag im Laden, um Onlinebestellungen entgegen zu nehmen et cetera. Ich holte sie ab und wir besorgten uns einen Kaffee und gingen in den Park auf dem Boxi, wo wir uns auf eine Bank setzten. Kaum hatten wir die Bank unserer Wahl gefunden, kamen drei Mitarbeiter des Ordnungsamtes auf uns zu und meinten, mit todernsten Gesichtsausdrücken, aber freundlich, ich solle bitte meine Maske wieder aufsetzen. Ich so: Aber ich will den Kaffee trinken. Soll ich das durch die Maske machen?

Sie: Nein. Aber danach setzen Sie sie bitte sofort wieder auf.

Ich: Ist gut. Klar. Mache ich.

Etwas in mir wollte ihnen in jedem Fall das Gefühl geben, dass ich ihre Arbeit extrem wertschätzte.

Sie, auf den Tabak meiner Freundin blickend: Aber hier dürfen Sie nicht rauchen. Das geht nur auf den Bänken dort. Das hier ist ein Kinderspielplatz.

Gut, am Horizont stand eine Schaukel, ansonsten war es eine leere Wiese und weit und breit kein Kind. Aber klar. Wir trotteten brav zu den Bänken, die uns zugewiesen wurden und die sich außerhalb der Umzäunung befanden und die nass und schmutzig waren, aber ich fand das Ganze schon fast normal. Irgendwie taten die drei mir leid. Weil ich mir vorstellte, wie oft sie vermutlich von Leuten krass angemacht wurden für ihre Ermahnungen, die letztlich nur darauf abzielten, die Leute zum Einhalten der Regeln zu bewegen. Humorfrei und ordentlich. So halt eben. 

Es war eisig, wir hielten es keine zehn Minuten auf der Bank aus. Der Kaffee war kalt, bevor ich ihn ausgetrunken hatte. Die Kälte kroch einem durch sämtliche Kleidungsschichten hindurch. Ich meine, habe ich jemals im Januar, bei nieseligem eiskaltem Wetter mit einer Freundin auf einer Bank gesessen, geraucht und Kaffee getrunken? Tja, vielleicht als Teenager, als man auf gar keinen Fall zuhause rumsitzen wollte. Freiwillig hatte man es da getan und null gefroren. Wir gingen zurück in ihren Laden. 

Das Treffen war in jeder Hinsicht toll. So ungewöhnlich. Zusammen drinnen irgendwo sitzen und stundenlang quatschen, vorher vom Ordnungsamt gerüffelt werden, über die Kinder reden, über unsere Geburten, den Laden, meinen neuen Job. Normale Gespräche eigentlich, die plötzlich zu Monatshighlights werden, weil so unglaublich selten.

Ansonsten treffe ich Freunde draußen. Ich gehe soviel spazieren, dass meine Laufapp mir quasi täglich mit einem kleinen virtuellen Feuerwerk vermeldet: Sie haben ihr heutiges Ziel erreicht. Und derart laufend sind wir schon im Februar. 

Letztens schlug ich einer Freundin einen Spaziergang vor. Sie so: Tja, also Spazierengehen ist mir heute nix. Ich wollte einen Powerwalk machen. Habe auch schon die Jacke an. Bist du dabei?

Ich: Aha.

Sie: Hast du dazu Lust?

Ich: Ich weiß, ehrlich gesagt nicht, wovon du sprichst.

Sie: Naja, ist schon ein Spaziergang, aber viel viel schneller.

Ich: Tja, weiß ich nicht, ob ich das durchhalte. Wir können ja mal loslaufen und wenn ich zusammenbreche, lass mich einfach am Straßenrand liegen. Kein Problem. Ich humpele dann irgendwann nachhause.

Sie: Haha. 

Ich zog meine Wanderschuhe an und wir marschierten los, über die Spree und am Ufer in Friedrichshain entlang bis zur Oberbaumbrücke und dann zum Görli und zurück nach Treptow, in sehr strammem Tempo. Meine App war vollkommen geflasht von mir. Meine Freundin war hinterher erschöpft und meinte: Du bist sehr gut in Form. Ich glaube, ich hoffe, sie war auch von mir geflasht. 

Ich so: Leucht. Strahl. Selbstbewusstsein aufgebaut.

Also, es sind die kleinen Dinge, die einen gerade am Leben erhalten, finde ich. 

Ich habe gerade das Buch Hamster im hinteren Stromgebiet von Joachim Meyerhoff beendet. In diesem fünften Band seiner autobiografischen Reihe Alle Toten fliegen hoch schreibt er über seinen Schlaganfall, den er aus quasi heiterem Himmel kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag hatte. Da ich mich relativ hopplahopp mit Charakteren identifizieren kann, hatte ich beim Lesen ständig das Gefühl, gleich einen Schlaganfall zu bekommen. Ich horchte lesend in meinen Körper hinein und fand die Vorstellung eines Blutgerinsels auf dem Weg in mein Gehirn im Grunde wahrscheinlich. Es wunderte mich bis Seite 50 extrem, dass mir das bislang nie geschehen war, wo es doch so logisch klang und ich schon älter war als der Autor. Aber irgendwann konnte ich mich dann doch etwas von meinem Körper lösen und komplett ins Buch einsteigen und ich habe es wirklich geliebt. Weil er zum einen schnörkellos zeigt, wie das Leben mal eben so komplett aus der Bahn gerät (kennen wir ja im Grunde gerade alle so ein bisschen) und weil er zum anderen auch und selbst bei diesem Thema so irre komisch ist. Ich lag teilweise im Bett und konnte mich vor Lachen nicht mehr einkriegen. Ich konnte dann auch stundenlang nicht schlafen, weil die Geschichten über die Klinik am Stadtrand von Wien, seine Kinder und seine verschiedenen Urlaube so komisch waren und so lapidar von ihm erzählt wurden, dass sie noch ewig in mir nachklangen. Dieses Buch war somit auch sehr tröstlich und ich finde, ein bisschen Trost kann vermutlich gerade jeder gebrauchen, oder? Dann lest es!

Als nächstes werde ich noch einmal Arbeit und Struktur lesen. Ich habe es vor einigen Jahren schon einmal verschlungen, es dann einem Kollegen geliehen und Freitag kehrte es zu mir nach etwa zwei Jahren zurück. Ich schloss es in meine Arme wie einen lange vermissten Freund, denn ich hatte in den letzten Wochen an dieses Buch gedacht und wollte es unbedingt noch einmal lesen. Für mich eine der ultimativen Lektüren auf meiner Coronaleseliste, die ich heute Abend aktualisiert habe. Wolfgang Herrndorf schrieb einen Blog, nachdem er erfahren hatte, dass er einen Hirntumor hatte und an diesem wohl auch sterben würde. Er schrieb sich dem Tod entgegen und protokollierte alles, was geschah, und dieses Buch ist vielleicht eines der lebendigsten, das ich je gelesen habe. Er gab seinem Leben Arbeit und Struktur, um es zu ertragen. Ich war beim ersten Lesen unglaublich beeindruckt von dem Mut und der Konsequenz, mit denen er das Leben umfasste, mit Worten seine Situation konfrontierte. Ich erinnere dieses Buch nicht als tröstlich und es ist auch nicht witzig. Aber es ist in seiner brutalen Akzeptanz dessen, was ist, wie eine Katharsis. Außerdem schreibt Herrndorf wahnsinnig gut.

"Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet." Wolfgang Herrndorf.

Ich glaube immer noch, dass alles gut werden wird. Aber ich denke, es wird auch anders werden. Immer weniger glaube ich daran, dass es irgendwann wieder so sein wird, wie es war vor dem 16. März 2020. Ich richte mich darauf ein, ein neues Leben zu leben und es ist wahr, ich schaue zurück, aber nicht nur einfach sentimental, sondern auch, weil ich verstehen möchte, was geschieht und was möglich ist. Möglich ist es, für mich, durch den Blick in die Vergangenheit meinen Atem zu verlängern. 

(c) Susanne Becker

 


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