und das verlangen nach vollkommenheit umgibt uns
wie eine burka oder eine nebelschwade
heißt es in einem der Gedichte von Linda Vilhjálmsdóttir. Mit dieser Aussage konnte ich auf der Stelle so viel anfangen, als wäre es eine kurze Zusammenfassung für mein Leben und das so vieler anderer Frauen, die ich kenne.
Ein kleiner Band namens das kleingedruckte, aus dem
isländischen übersetzt von Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gislason, erschienen
im wunderbaren Elif Verlag. Wenn Lyrik, dann häufig dort.
Der Einband ist in meinem Lieblingsblau gehalten und lässt
mich immer wieder denken: blaue Wunder. Manche Bücher sind solche blauen
Wunder, die einem Hören und Sehen vergehen und dann wieder neu, aber anders, erlernen lassen.
Ein Blick auf die Geschichte der Frauen und das Verhältnis
zwischen Frauen und Männern. Ein Blick auf die vielen unterschiedlichen Arten
von Frauen, die es gibt: bergfrauen und solche mit feuerrotem lippenstift, mit
beigen kostümen und nackten beinen, schlampen gibt es und hausfrauen und
mütter, großmütter und enkelinnen, doch bleibt für sie alle wahr, was in einem der Gedichte
steht:
nach
einem halben jahrhundert
blutigen kampfs
das zerbrechliche selbstbildnis
innerhalb einer akzeptablen fehlerspanne aufrecht zu
erhalten
kann ich behaupten
dass frauen wie ich
immer noch unbekannte größen sind
Wie könnten die Frauen auch bekannt sein, wo sie doch immer
noch darum kämpfen, in einer Männerwelt ganz ohne Scham sie selbst zu sein? Für
sich selbst. Nicht für irgendwen sonst. Wo sie immer noch darum kämpfen, auf
sich selbst mit Selbstvertrauen zu sehen. Dieses Buch ist ein zutiefst feministisches Buch. Es liest sich aber auch wie ein Hexentrank, von einer besonderen Frau uns anderen und den Männern dargereicht, um etwas zu verstehen. Mit Worten, und doch ohne Worte. Denn Vilhjálmsdóttirs Worte dringen in eine nonverbale Tiefenebene, bringen sie auf jeder Seite, mit jeder Zeile zum Schwingen. Man möchte eigentlich auf einen Besen steigen und davon fliegen.
Das Buch ist voller Zorn und Liebe und Leidenschaft und
obwohl es blau ist, sprüht es rote Feuerfunken der Bergfrauen hinunter ins Tal
und ist eine wahre Lektürefreude, poetisch und klar. Die Bilder, die sie
teilweise findet für die weibliche Situation, sind für mich ganz neu und
treffen sehr markant ins Schwarze. Keines der Gedichte verfehlt sein Ziel. Ihre
Kunst erinnert mich ans Bogenschießen. So elegant und mit scheinbar wenig Mühe
schießt sie ihre Wortpfeile ins Mark der Lesenden.
Die isländischen Originaltexte stehen in dieser
zweisprachigen Ausgabe links, die deutsche Übersetzung rechts. Glücklich, wer
beide Sprachen beherrscht. Ich kann nur die deutsche Version lesen und finde
sie brilliant.
Manche Gedichte scheinen über viele Seiten zu gehen, entfalten eine Erzählung, und doch
enthält jede einzelne Seite ein voll gültiges Gedicht. Es gibt in diesem Buch kein Fragment. Jede Zeile spricht einen
als Leserin ganz direkt an und enthält alles.
Eine große Leseempfehlung von mir für dieses wunderbare
Buch.
Danke, lieber Elif Verlag. Mit der Zusendung habt Ihr mir
eine große Osterfreude bereitet und ich habe ab sofort eine neue
Lieblingsdichterin in meinem Pantheon der inspirierenden Wortfrauen.
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