Direkt zum Hauptbereich

John Williams, Stoner

Stoner ist vermutlich eines der deprimierendsten Bücher, das ich je gelesen habe. Aber deprimierend muss ja nicht automatisch schlecht sein.
StonerEs erzählt die Geschichte eines ganz normalen Mannes, William Stoner, dessen Träume sich ziemlich durchgängig nicht erfüllen, der, obwohl vielleicht fähig zu etwas mehr, doch eine eher mittelmäßige Existenz fristet. Seine Ehefrau Edith nervt vom ersten bis zu ihrem letzten Auftritt im Buch, erwidert seine Liebe nicht und fügt zu seinem Unglück (das er durchaus nicht durchgängig als solches empfindet, ich als Leserin aber schon!) das ihrige dazu und zwar streckenweise mit intriganter Absichtlichkeit. Seine Tochter, von ihm heiß geliebt und als Art Seelenverwandte erkannt, wird ihm von der Ehefrau irgendwann gezielt entfremdet. Als Folge führt auch deren Leben in eine (letztlich vom Alkohol vernebelte) Durchschnittsunglücksexistenz. Einmal hat er für eine kurze, überaus glückliche Zeit eine Geliebte, eine kongeniale Freundin und Partnerin, er findet Liebe und Erfüllung. Aber (Stoners Leben reicht von 1891 bis etwa 1956), zu seiner Zeit war es undenkbar, seine Ehefrau zu verlassen, eine Scheidung einzureichen, mit seiner Geliebten durchzubrennen. Moment mal! Wirklich? Es gab Augenblicke während der Lektüre, da wollte ich Stoner mal kurz durchschütteln und ihm klar machen, dass er nur dieses eine Leben hat und verdammt nochmal ein bisschen mehr Courage, Leidenschaft, Lebendigkeit an den Tag legen sollte.
Aber das weiß er ja alles selbst. Würde ich es ihm sagen können, er würde mich vermutlich mit einer Mischung aus Mitgefühl und Geduld anschauen und leise nicken und genauso weiter machen wie vorher. Er stolpert nicht unbewusst durch diese oft doch eher trist erscheinende Existenz, sondern sie ist auch immer wieder bewusste Wahl vor dem Hintergrund moralischer und umständlich durchdachter Entscheidungen sowie akzeptierter Zwänge. Er akzeptiert sein ganzes Leben und hadert nicht damit.
Obwohl Stoner mich mit meinem eher ungeduldigen Temperament zeitweise zur Weißglut brachte und die Melancholie und Tristesse der Geschichte mir ziemlich rasch in alle Glieder fuhr, konnte ich nicht aufhören, das Buch zu lesen, ja, geradezu zu verschlingen. Warum? Weil es unglaublich gut und stringent erzählt ist, meisterhaft! Würde ich es einmal schaffen, eine Geschichte so aufzuschreiben, ich könnte mich befriedigt zurück lehnen. Weil die Geschichte psychologisch absolut stimmig ist. Weil es mehr Menschen gibt, die wie Stoner, Edith und Grace ihre Existenz im Durchschnittlichen und Unerfüllten verbringen, obwohl sie vielleicht das Besondere anstreben (oder nicht, ja, möglicherweise streben die meisten es nicht an und möglicherweise ist es, dieses Besondere, im Großen und Ganzen auch vollkommen überschätzt heutzutage). Weil die Sichtweise Stoners auf die Welt, die Menschen und das Leben eine bestechliche Klarheit und Wahrheit transportiert. Weshalb das Buch etwas Berührendes hat und da bin ich nicht die erste, die das feststellt. Alle Rezensenten (fast) sagen dies.
Stoner berührte mich auf eine Weise, die ich mir vielleicht nicht ausgesucht hätte, aber es ist so allgemein menschlich und tief in seiner Schnörkellosigkeit, dass man beim Lesen nicht an der Einsicht vorbei kommt, wie sehr diese Geschichte die Geschichte von uns allen ist, insofern wir Träume haben/hatten, die unerfüllt bleiben werden, insofern wir irgendwann verstehen, dass wir nicht alles werden tun können, zu dem es uns hin zieht, insofern wir alle irgendwann über die eher banale Wahrheit stolpern werden, dass unser Leben und seine Möglichkeiten auf eine schmerzhaft unbezwingbare Weise begrenzt sind. Kein Wunder, dass das Buch mich deprimiert hat!

© Susanne Becker


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso