Direkt zum Hauptbereich

Schriftstellerinnen, denen ich den Nobelpreis geben würde

Neunzig Mal müsste der Nobelpreis ab jetzt ununterbrochen an eine Frau verliehen werden, damit ihn annähernd genau so viele Frauen wie Männer je gewonnen hätten. Natürlich ist der Nobelpreis keine mathematische Gleichung. Dennoch geben mir solche Verhältnismäßigkeiten zu denken.

Ich habe mir deshalb den Spaß gegönnt, ein wenig zu stöbern nach spannenden Schriftstellerinnen und eine Liste von Autorinnen zusammen gestellt, die in Frage kämen. Sie hätten nicht nur das richtige Alter, sondern haben auch eine unübersichtliche Menge an sehr guten Büchern geschrieben. Ich habe viele Angelsächsinnen in dieser Liste, was mit meinen Lesevorlieben viel zu tun hat, aber auch mit meinem zugegeben eingeschränkten Horizont. Ich gehe nicht wirklich davon aus, dass jemand aus diesem Sprachraum gewinnen kann, hat doch im letzten Jahr Alice Munro ihn gewonnen, zu meiner großen Freude. Die Nobels gehen ja doch immer ein wenig systematisch vor und springen zwischen den Weltgegenden hin und her. Es wird aller Voraussicht nach auch niemand aus Europa sein.
Sollte das Nobelkomitee über diese Gesichtspunkte hinaus auch noch politisch und nicht nur literarisch ein Zeichen setzen wollen, was ja schon vorgekommen ist, könnte der Preis an eine Ukrainerin, an eine muslimische Frau, die sich für Menschen- und Frauenrechte oder generell an eine Frau gehen, denn die Situation von Frauen weltweit ist, unter anderem auch dem Vorrücken muslimischer Extremisten in allen möglichen Ecken der Welt geschuldet, eher gefährlicher geworden.

Siri Hustvedt ist vielleicht noch ein wenig zu jung. Sie ist erst 59. Aber man könnte sie sich für eines der kommenden Jahre vormerken. Unglaublich produktiv, schreibt sie nicht nur wunderbare Romane wie zum Beispiel Was ich liebte, sondern auch Abhandlungen über kunsthistorische oder neurologische Themen. Bei einer Lesung von Die zitternde Frau sah ich sie hier in Berlin. Eine beeindruckende, sehr kluge Persönlichkeit, die den Preis sicherlich mit Würde entgegen nehmen würde.

Mary Oliver ist meine liebste Lyrikerin. Soweit ich es weiß sind ihre Gedichte nicht ins Deutsche übersetzt worden, was sehr schade ist. Ich empfehle sie allerdings jedem, der englisch beherrscht. Sie ist meiner Ansicht nach eine wahrhaft große Poetin und dringt in die Tiefe des Menschseins vor. Jeden Morgen macht sie einen Spaziergang und in diesen Begegnungen mit der Natur, der Stille und sich selbst beginnen viele ihrer Gedichte Gestalt anzunehmen. Für mich ist sie eine Advokatin dessen, was zählt im Leben.

Annie Dillard schreibt wunderbare Bücher wie zum Beispiel Pilgrim at Tinker Creek Vielleicht mag ich Annie Dillard aus ähnlichen Gründen, aus denen ich Mary Oliver liebe: weil beide für mich so etwas kontemplatives in ihrem Schreiben zum Ausdruck bringen. Annie Dillard lebte ein Jahr lang allein in einer Hütte in Virginia, so ein wenig wie Thoreau und beobachtete die Natur um sich herum. Sie schrieb über Spinnen Sonnenauf- und untergänge, Käfer, Fische ihre menschlichen Nachbarn, Pflanzen aller Art und Frösche und tat dies mit einer Liebe und einem Tiefgang, dass die Verbindung zwischen uns und jeder Kreatur spürbar wurde und man beim Lesen selbst zur Ruhe kommt. Sie vermittelte eine große Achtung vor allem, was ist.Auch ein Buch übers Schreiben hat sie veröffentlicht, das für alle Schriftsteller als Lektüre eine Art Muss darstellt. Hier ein Zitat aus The Writing Life:
"One of the few things I know about writing is this: spend it all, shoot it, play it, lose it, all, right away, every time. Do not hoard what seems good for a later place in the book, or for another book; give it, give it all, give it now. The impulse to save something good for a better place later is the signal to spend it now. Something more will arise for later, something better. These things fill from behind, from beneath, like well water. Similarly, the impulse to keep to yourself what you have learned is not only shameful, it is destructive. Anything you do not give freely and abundantly becomes lost to you. You open your safe and find ashes." 

Louise Erdrich hat vierzehn Romane veröffentlicht. Sie ist Halbindianerin und ihre Bücher spielen alle im Milieu und in der Welt der amerikanischen Ureinwohner. Oft haben Frauen darin tragende Rollen.  Durch Erdrich habe ich viel über die Realität in den Reservaten hier und heute erfahren. Sie ist meiner Meinung nach eine großartige Geschichtenerzählerin. Außerdem ist sie Autorin von Kinderbüchern und Gedichten. Eines meiner liebsten Gedichte nicht nur von ihr, sondern überhaupt ist dieses
Leave the dishes.
Let the celery rot in the bottom drawer of the refrigerator and an earthen scum harden on the kitchen floor.
Leave the black crumbs in the bottom of the toaster.
Throw the cracked bowl out and don't patch the cup.
Don't patch anything. Don't mend. Buy safety pins.
Don't even sew on a button.
Let the wind have its way, then the earth
that invades as dust and then the dead
foaming up in gray rolls underneath the couch.
Talk to them. Tell them they are welcome.
Don't keep all the pieces of the puzzles
or the doll's tiny shoes in pairs, don't worry
who uses whose toothbrush or if anything
matches, at all.
Except one word to another.
Or a thought.
Pursue the authentic-decide first
what is authentic,
then go after it with all your heart.
Your heart, that place
you don't even think of cleaning out.
That closet stuffed with savage mementos.
Don't sort the paper clips from screws from saved baby teeth
or worry if we're all eating cereal for dinner
again. Don't answer the telephone, ever,
or weep over anything at all that breaks.
Pink molds will grow within those sealed cartons
in the refrigerator.
Accept new forms of life and talk to the dead
who drift in though the screened windows, who collect
patiently on the tops of food jars and books.
Recycle the mail, don't read it, don't read anything
except what destroys
the insulation between yourself and your experience
or what pulls down or what strikes at or what shatters
this ruse you call necessity.

~From: "Original Fire: New and Selected Poems",2003, by Louise Erdrich
Es hat mich sogar einmal zu einem Text hier inspiriert. Zu den Romanen die ich wirklich liebe, gehören The Bingo Palace, The Plague of Doves und Shadow Tag. Ihr neustes Buch heißt The Round House. Es ist ziemlich weit oben auf meiner to read list! In Deutschland ist es beim Aufbau Verlag erschienen.
Hilary Mantel ist, soweit ich informiert bin, die einzige Autorin die zweimal den Man Booker Preis gewonnen hat, 2009 für Wolf Hall, das übrigens auf meinem Nachttisch liegt und das ich in meinen Oktoberurlaub mit nehmen werde, und 2012 für Bring up the Bodies (den Nachfolger). Alice Munro hat 2009 übrigens den International Man Booker Prize gewonnen.

Alice Walker hat das perfekte Alter (geboren 1944), sie schreibt wunderbar und ist zu allem Überfluss politisch aktiv und bewusst. Im Grunde fragt man sich, wie es sein kann, dass sie ihn nicht längst bekommen hat. Bücher von ihr, die man unbedingt gelesen haben sollte sind Temple of my Familiar, The Colour Purple, Possessing the Secret of Joy und In Search of Our Mother's Gardens.

Nawal El Saadawi ist eine ägyptische Menschenrechtlerin und Schriftstellerin, die sich vor allem für die Rechte der Frauen einsetzt. Angesichts dessen, was gerade unter der Flagge von ISIS geschieht, angesichts von Entführungsfällen von Mädchen und Frauen (auch mal gerne in Gruppen zu 200 oder 1500) und der Verbreitung radikal islamistischer Positionen halte ich es für keine schlechte Idee, jemanden auszuzeichnen, der sich dagegen stellt. Damit könnte das Nobelkomitee Stellung beziehen und würde dennoch eine gute Schriftstellerin auszeichnen. Auf der Wettliste steht es 20/1 für sie.

Margaret Atwood wird ihn sicher eines Tages erhalten, aber doch vermutlich nicht in diesem Jahr. Kaum wird das Komitee zwei Kanadierinnen hintereinander auszeichnen. Allerdings gilt dieser Punkt generell für alle Schriftstellerinnen aus dem angelsächsischen Raum, wie oben schon erwähnt, so dass man davon ausgehen kann, dass sie nicht gewinnen werden. Übrigens ist sie abgeschlagen auf der Wettliste: 33/1.

Joyce Carol Oates dito. Die Wetten stehen 16/1, aber wohl kaum werden die Juroren zwei Angelsächsinnen hintereinander auszeichnen. Ich denke, auch sie wird ihn sicher eines Tages erhalten. Sie ist ja noch jung :-)

Jhumpa Lahiri ist vermutlich zu jung (47)  für diesen Preis. Ich nenne sie trotzdem, weil ich sowieso nicht verstehe, warum man uralt sein muss, um zu gewinnen. Eine Inderin, die in Amerika lebt, aber ihre Bücher spielen in Indien und den USA. Ihr Roman The Namesake hat unter anderem den Pulitzer Preis gewonnen.

Assia Djebar ist auf den Wettlisten zur Zeit auf Platz 10 der wahrscheinlichen Nobelpreisgewinner. Für sie gilt meiner Ansicht nach das Gleiche wie für Nawal El Saadawi: angesichts dessen, was Frauen gerade weltweit widerfährt, wie ihre Menschenrechte durch vor allem radikal islamistische, aber auch, siehe USA; radikal christliche Positionen beschnitten oder komplett ignoriert werden, halte ich die Auszeichnung einer Schriftstellerin die sich für die Menschenrechte einsetzt, für ein Zeichen, über das ich mich sehr freuen würde.

Naomi Shihab Nye ist eine wunderbare Poetin. Ihr Vater war palästinensischer Flüchtling und ihre Mutter Amerikanerin. Sie ist in Minnesota geboren. Ich weiß, dass es vollkommen unwahrscheinlich ist, dass sie je den Nobelpreis erhält. Aber ich finde, sie ist eine bemerkenswerte Schriftstellerin und in dieser Liste hier in meinem eigenen Blog kann ich auszeichnen wen ich mag, oder? Damit Ihr vielleicht ein wenig versteht, was ich meine, hier ein Gedicht von ihr:

Kindness

Before you know what kindness really is
you must lose things,
feel the future dissolve in a moment
like salt in a weakened broth.
What you held in your hand,
what you counted and carefully saved,
all this must go so you know
how desolate the landscape can be
between the regions of kindness.
How you ride and ride
thinking the bus will never stop,
the passengers eating maize and chicken
will stare out the window forever.

Before you learn the tender gravity of kindness,
you must travel where the Indian in a white poncho
lies dead by the side of the road.
You must see how this could be you,
how he too was someone
who journeyed through the night with plans
and the simple breath that kept him alive.

Before you know kindness as the deepest thing
inside,
you must know sorrow as the other deepest thing.
You must wake up with sorrow.
You must speak to it till your voice
catches the thread of all sorrows
and you see the size of the cloth.

Then it is only kindness that makes sense anymore,
only kindness that ties your shoes
and sends you out into the day to mail letters and
purchase bread,
only kindness that raises its head
from the crowd of the world to say
It is I you have been looking for,
and then goes with you everywhere
like a shadow or a friend.

Joan Didion wäre alt genug (79), schreiben kann sie auch, ja, sie ist wohl eine der amerikanischen Schreibikonen. Ihre beiden Bücher The Year of Magical Thinking und Blue Nights gehören zum Besten, was ich je gelesen habe. Sie ist sogar auf der Liste 50/1.Aber sie ist Angelsächsin, also vergessen wir sie gleich wieder. Leider!

Svetlana Aleksijewitsch steht bei den Wetten an dritter Stelle, gleich hinter Murakami und Thiong'o, den höchst gehandelten Favoriten. Es spricht für sie, dass sie halb Weißrussin und  halb Ukrainerin ist. Wenn man es so simpel ausdrücken kann, wäre ja mal jemand dran aus dieser Gegend, und Flagge zeigen könnte man mit dem Preis an sie ebenfalls. Sie ist eine sprachliche Meisterin und ihre Werke setzen sich, nicht nur journalistisch, sondern oft auch auf hohem literarischen Niveau, mit den Dramen Russlands auseinander: Tschernobyl, der Afghanistankrieg, vielleicht auch bald die Ukraine? Das postsowjetische Russland und seine Kämpfe findet in ihrem aktuellsten Buch Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus, in der ihr eigenen Form (Interviews zu Literatur verarbeitet) seine Stimme. Ihre Bücher sind in Deutschland teilweise bei Hanser, eins auch im Berlin Verlag erschienen.

Dacia Maraini tauchte dann noch auf der Wettliste auf. Sie ist Italienerin, Romanautorin, hat Krimis geschrieben und ihr Werk beschäftigt sich immer wieder mit feministischen Themen. Hier noch ihre Goodreadsseite, damit Ihr einen Eindruck bekommt, wieviel sie produziert hat. So gesehen, warum nicht eine Italienerin? Hat, soweit ich weiß, das letzte Mal 1925 (Grazzia Deleda) eine gewonnen. Die Wetten stehen 33/1, o.k., etwas abgeschlagen. Aber diese Wetten besagen ja sowieso nichts, oder alles.

Morgen ist es soweit. Bin sehr gespannt, wer wirklich gewinnen wird und habe durch die Recherche zu diesem kleinen Text sehr viele neue Ideen bekommen, was ich noch alles lesen möchte. Mein persönlicher Tipp ist übrigens die Aleksijewitsch.

© Susanne Becker

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso