"Man könnte sagen,
dass ich ein spirituelles
Vertrauen in den nicht aufzuhaltenden Elan narrativer
Entwicklungen hatte."
Vertrauen in den nicht aufzuhaltenden Elan narrativer
Entwicklungen hatte."
Überbitten, das neue Buch von Deborah Feldman, handelt von
den Jahren, nachdem sie die fundamentalistische, jüdische Gemeinde der chassidischen Satmarer in
Williamsburg/New York verlassen hat. Es ist ein sehr persönliches Buch. Sie
macht sich darin absolut sichtbar, vielleicht noch mehr, als in Unorhodox, dem
Buch, in welchem sie ihr Leben bei den Chassiden und den Entschluss, es zu
verlassen, schilderte. (hier nochmal meine Rezension von Unorthodox)
Sie baut keinerlei Schutzwall um sich herum. Ihre absolute
Ehrlichkeit und Authentizität sind zwei der Gründe, warum dieses Buch so gut
ist. Es saugt einen vom ersten Satz an in seinen Bann. Es ist, als würde man
mit einer wunderbaren Freundin quatschen, die einen nicht eine Sekunde lang hinters Licht führt. Frei von der Leber weg. Dabei
intelligent, tiefsinnig, mit einer Menge Bezügen zu Denkern und Autoren, die man
selbst ebenfalls schätzt, z.B. Hannah Arendt oder Primo Levi. Jede Seite
öffnet den eigenen Geist, das eigene Herz ein Stückchen weiter, bis es mir am
Ende des Buches so ging, dass ich eigentlich mal kurz die Welt umarmen wollte.
700 Seiten über die sieben Jahre, die folgten, nachdem sie ihre Familie und
die chassidische Gemeinde verlassen hat. Es ist auch ein Buch über Deborah Feldmans Großmutter, bei
der sie aufgewachsen ist. Diese Großmutter ist eine ungarische Jüdin. Sie hat
Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt. Sie ist zunächst nach Schweden gekommen,
weil sie sehr schwer an Typhus erkrankt war, und von dort, nach langem Hin und
Her, in die USA. Sie heiratete einen chassidischen Satmarer, der ebenfalls aus
Ungarn stammte, aus einem Nachbardorf. Wenn man Auschwitz überlebt hat, fällt
man entweder vollkommen von Gott ab,
Andreas Platthaus und Deborah Feldman bei der Premiere des Buches im Berliner Kino Babylon (C) mit meinem Handy, kein Smart Phone, fotografiert |
an dessen Existenz man nicht mehr glauben kann, oder man verschreibt sich ihm ohne Wenn und Aber, hoffend, dass das Einhalten der strengsten und absurdesten Gesetze und Gebote, diesen offensichtlich so zornigen Gott besänftigen kann, somit eine erneute Katastrophe für zumindest diese Gruppe des jüdischen Volkes verhindern wird.
Ich las das Buch als Liebeserklärung an diese Großmutter,
die sich den Regeln der Satmarer gebeugt hat, auch wenn darüber ihr Garten
verkümmerte, der ihre große Leidenschaft war, ihr Rückzugsort. Die Regeln für einen blühenden, fruchtbaren Garten ließen sich jedoch, und da war der Großvater streng, nicht in Einklang bringen mit den Geboten der Satmarer für das Bearbeiten eines Gartens. Sie hat
Auschwitz nie erwähnt, sie konnte wunderbar backen und kochen und war für
Deborah, die ohne Eltern aufwuchs, der Inbegriff von Liebe.
Das Buch ist, so vermutete ich die gesamte Lektüre hindurch, auch der Versuch, sie, diese
geliebte Großmutter, „mit Bitten zu überwinden“, also „Überbitte“ zu leisten
für ihr Fortgehen. (Hier der Link zu einem Video aus der ARD Mediathek mit einem Beitrag, in welchem D. Feldman unter anderem den Begriff Überbitten erläutert. Der Link ist noch bis 8. Juni 2018 verfügbar.)
Aber vor allen Dingen Überbitte zu leisten dafür, dass sie
nach diesen sieben Jahren ausgerechnet in dem Land ihr Zuhause gefunden hat,
das für die Großmutter, für die Satmarer allgemein, die Verkörperung des Bösen
darstellt: Deutschland.
Am Mittwoch hatte das Buch im Berliner Kino Babylon
Premiere. Im Rahmen der Veranstaltung gab es die Möglichkeit für das Publikum
(geschätzt 500 Menschen waren anwesend, das Kino praktisch voll), Fragen zu
stellen. Eine Dame fragte, ob Deborah Feldman je wieder Kontakt zu ihrer
Großmutter gehabt habe. Sie verneinte dies. Denn die Regeln der Satmarer sind
fundamentalistisch. Wer die Gemeinschaft verlässt, darf nicht nur nie wieder
zurück, sondern wird auch von den anderen Mitgliedern verfolgt. Einige andere
ehemalige Satmarer, die wie Deborah Feldman die Flucht gewagt haben, haben sich
in den letzten Jahren das Leben genommen, weil die Angriffe zu schmerzhaft wurden.
Ein Onkel von Deborah Feldman verbreitete das Gerücht über sie, auch sie sei
längst tot. Wer die Gemeinschaft
verlässt, ist tot.
Als Deborah Feldman die Frage nach ihrer Großmutter
beantwortete, merkte man ihr den Schmerz über die Regeln einer Gemeinschaft
an, die ihr dafür, dass sie ihr eigenes Leben gestalten und leben möchte, den
Kontakt mit der Person verweigert, die für sie Liebe bedeutet. Das Buch ist dieser Großmutter gewidmet. Vielleicht wird sie es eines Tages lesen, heimlich.
Dieses Buch ist auch ein Buch über Deutschland. Ich muss
gestehen, dass ich es liebe, Bücher zu lesen, in denen mir Menschen aus einer
vollkommen anderen Perspektive als der meinen die Orte schildern, an denen auch
ich mich bewege. Das ist in etwa so mind-opening wie Reisen an Orte, die einem
wirklich fremd sind. Man kapiert in wenigen Sekunden, wie egomanisch und
eingeschränkt die eigene Sicht ist. Immer glaubt man, die eigene Meinung wäre
allgemein gültig, möglicherweise sogar eine Art Norm für Normalität schlechthin.
Wie leicht fühlt man sich irritiert von allen, die die Dinge anders handhaben
als man selbst. Sie müssen falsch liegen, das ist klar. Diese Irritation mit
anderen und das eigene Beharren auf der Rechtmäßigkeit der eigenen Perspektive
ist ein wunderbarer Nährboden für jeden Rassismus, für jede Ausgrenzung.
Die Feldman schildert uns deutlich ihre Irritation über
Deutschland, wie die Realität mit ihren Vorstellungen, den in der Satmarer
Gemeinde gelernten Ansichten über die Heimat des Bösen teilweise kollidierten, teilweise übereinstimmten.
So ist dieses Buch auch eine Art Protokoll darüber, wie sie ihre
Bewusstseinsblase zum Platzen brachte und immer weiter und immer mutiger wurde,
mit jedem Jahr. Bis sie irgendwann zu der Erkenntnis kam, dass sie in
Deutschland leben möchte.
Am Abend der Premiere erzählte sie uns, dass sie einen Tag
später die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten würde. Wie dies möglich war für sie, welche Verwirrungen und
Zufälle in der Vergangenheit ihrer Familie dazu führten, auch das erzählt uns
Überbitten.
In Überbitten bringt sie alles zusammen, ihre Familie, ihre
Vergangenheit, die Geschichte, in welcher die gesamte Familie ihrer Großmutter
in Auschwitz ausgelöscht wurde, sich selbst vorher und jetzt, wo sie sich zum
ersten Mal als unabhängiges, starkes Selbst wahrnehmen kann, in einem
vollkommen selbstbestimmten Leben.
„Sieben Jahre lang war ich eine Art Flüchtling. Ich platzte
in diese Welt, indem ich jene Öffnungen nutzte, die Globalisierung und
Technologie in ihre alten Mauern geschlagen hatten,… Ich habe mir diese eine Frage
in den vergangenen sieben Jahren beständig gestellt: Ist es möglich,
anzukommen?“
Die Seiten, auf denen Deborah Feldman erzählt, wie sie in
Neukölln landet und ihre Tage in dem Café Espera verbringt, wie sie nach und
nach einen Freundeskreis kennenlernt, zu dem unter anderem dann auch ihr
späterer Verleger vom Secession Verlag gehört, sind so wunderbar, dass ich am
liebsten gleich von meinem Haus im Wrangelkiez hinüber laufen wollte in den
Reuterkiez und mich dazusetzen.
"Wer in jenen Tagen über die Sonnenallee gegangen ist, wird mich höchstwahrscheinlich am Fenster des Café Espera gesehen haben, oder draußen, auf einer Bank, zusammengekauert mit meinem New Yorker , ..., und vielleicht hat man mich im Gespräch mit einigen der benachbarten Anwohner gesehen, mit denen ich zaghafte Freundschaften begonnen hatte: eine Studentin aus Ostdeutschland, die fließend Englisch sprach; ein Dichter und Musiker, der derart system-kritisch eingestellt war, dass sein politisches Gewissen ihm häufig den Zugang zu gesellschaftlichen Ereignissen verwehrt hatte; ein junger Psychotherapeut und Teilzeit_DJ, dessen radikal linke Ansichten aus seiner Jugend in jener Art langsamen Resignation an Zuversicht verloren hatten, die sich uns häufig mit dem Erwachsenwerden aufdrängt, und ein Verleger, den man häufig Zigarette rauchend beim Lesen der Kritiken seiner Autoren antreffen konnte,..."
Dieses Buch ist vielschichtig, es schenkt dem Leser
unglaublich verschiedene Erfahrungen, Geschichten und Einsichten. Am Ende der
Buchpremiere wird Deborah Feldman gefragt, ob sie ihre Religion immer noch
praktiziere. Sie verneint, sagt aber gleichzeitig, dass sie ein tiefgläubiger
Mensch sei, und dass dieses Buch im Grunde zeige, woran sie glaube.
Über diesen Satz muss ich seitdem nachdenken. Denn ich
denke, weil dem so ist, ist das Buch so nahrhaft für mich gewesen. Es ist ein
spirituelles Buch. Woran glaubt Deborah Feldman? An den "nicht aufzuhaltenden
Elan narrativer Entwicklung". Daran also, dass alle unsere Leben Geschichten
sind, die nur dann authentisch erzählt werden können, geschehen können, wenn
wir bereit sind, uns vollkommen unserer eigenen inneren Stimme anzuvertrauen.
Die 700
Seiten legen Zeugnis darüber ab, wie Deborah Feldman dies tat, kompromisslos, und wohin es sie führte. Letztendlich führte es sie nämlich nicht nur zu sich selbst und nach Deutschland, sondern auch, so sehe ich es, ein Stückweit zu ihrer Großmutter, zu dem Leben, das diese hätte leben können, wenn der Holocaust nicht alles zerstört und auf Null gesetzt hätte für sie.
"Vielleicht ist das ganze Buch eine Erklärung dafür, wie ich glaube, was ich glaube." Lange also dachte ich über diesen Satz nach und was er für
mich bedeutet und ich kam zu dem Schluss, dass mir das Buch auch deshalb so gut
gefällt, weil ich dem gleichen Glauben anhänge, wie Deborah Feldman.
Ich danke dem Secession Verlag sehr herzlich für das Rezensionsexemplar und auch sonst!!
(c) Susanne Becker
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