Ann Cotten, Fast Dumm
Essays von on the road
Ich muss wieder reisen.
Das war mir in dem Moment klar, als ich heute Ann Cottens spannendes
Buch Fast dumm, erschienen bei den Fürther starfruit publications, aus dem
Briefkasten zog. Roadtrips are necessary! Very!
Schon das Coverphoto zieht mich im Grunde auf die Straße.
Sofort möchte ich den Schlüssel in ein Zündschloss stecken und mich auf den Weg
machen.
Es gibt sehr viele Orte, die ich unbedingt noch oder wieder
sehen möchte und ich sollte damit beginnen, bevor ich so alt bin, dass ich
einen Rollator brauche. Das ist nicht witzig. Ich weiß! Es gibt so viel, was ich kapieren möchte.
Das Reisen als Übung darin, in
der Nähe zu leben. Das klingt paradox, aber nur im ersten Moment. Im zweiten kann ich erklären, dass in der Nähe
zu leben bedeutet: Dinge, Situationen, Menschen, Orte, sagen wir mal: das
Leben, an sich heran kommen zu lassen, ohne sich mit einer Sichtblende aus
theoretischem Firlefanz davor zu verbarrikadieren. Wer die Stille nicht
fürchtet, der kann auch gut reisen. „Was er nicht ertragen kann, kann er nicht
kapieren.“ So steht es auf der Rückseite des Buches, des ungewöhnlichen Buches.
Es enthält Essays, wie schon im Titel erwähnt, von on the road. Einen Essay aus
Moskau, wo Ann Cotten an einem Poetry Festival teilgenommen hat. Danach reiste
sie für zwei Monate durch die USA und besuchte ihre Verwandten. Wir schreiben das Jahr 2017, Trump ist dort
gerade zum Präsidenten vereidigt worden und der Schock darüber hält an. Was er
nicht ertragen kann, kann er nicht kapieren, Um zu kapieren, wie einer wie
Trump amerikanischer Präsident werden konnte, muss man Amerika an den Stellen
ertragen, an denen er gewählt wurde. (Das gilt in einem übertragenen Sinne auch für Deutschland und die AfD, Pegida, Reichsbürgerbewegung etc. glaube ich.) An denen er tagtäglich wieder gewählt
werden würde. Das sind die Stellen, denen man sehr nahe kommen muss, sonst kapiert man gar nichts.
Schon mehrfach bin ich selbst mit dem Auto, der Bahn und dem Flugzeug kreuz und quer durch die
USA gereist. Kapiert habe ich dabei wenig. Allerdings
habe ich das Land auch nicht wirklich an mich heran gelassen. Man darf keine
Berührungsängste haben, wenn man etwas verstehen will. Ich bin damals einfach
gefahren, habe an Raststätten gesichert meine Mahlzeiten eingenommen, in den
Grand Canyon gestarrt und fast geweint, bin durch Städte gebummelt und dennoch
habe ich rückblickend das Gefühl, mir dieses Land durch die Scheibe angeschaut
zu haben. Ein Gefühl, das man manchmal vielleicht auch seinem gesamten Leben
gegenüber haben kann? „So leben also viele wie Touristen in der Welt.“
Es geht darum, sich ganz weit aufzumachen und wirklich zu
berühren, was einem auf Reisen begegnet. Sich auch davon berühren lassen, was
immer die Gefahr birgt, verändert zurückzukehren. Was immer die Gefahr birgt,
den Dämonen in sich zu begegnen.
Ihre eigenen Texte werden zusammengehalten, zu einem
merkwürdigen Ganzen geflochten, durch Gedichte, zum Beispiel von W.H. Auden oder
Majakowski. Verstörende und aufstörende Zeilen.
Dann gibt es noch die Fotos. Ich mag die Fotos. Mit ihnen
wird dieses Buch mit seinem wunderbaren Titel zu einem Gesamtkunstwerk. Sie
wurden oft einfach mit dem Handy gemacht. Sie sind den Fotos, die ich mache, tausendmal ähnlicher als den Fotos, die so viele andere heute
machen und posten, und die so aussehen, wie wenn früher jemand Fotografie
zumindest beim Lette Verein studiert hätte. Deshalb mag ich die Fotos. Sie
beschönigen nicht. Sie sind. Sie zeigen. Sie fahren einem unbearbeitet an die Kehle, wie die alten Familienfotos, die einem beim Ausräumen der elterlichen Wohnung aus einer Schublade ohne Vorwarnung entgegen rutschen.
Ann Cotten ist in den USA geboren. Aber sie lebt in Wien und
Berlin. Das sind zwei meiner Lieblingsstädte. Die Welt nennt sie in diesem Interview die klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache. Ich weiß nicht, ob ich dem zustimme. Denn mir fallen umgehend noch andere kluge und schwierige Dichterinnen ein. Aber dass sie es hat, ist eindeutig. Sie gehört für mich ab diesem Buch zur Gruppe der klügsten und schwierigsten, die ich so besonders schätze, dazu. Ohne Frage.
Lest mal dieses Buch. Es ist wieder so eines, das glücklich
macht, als Gesamtkunstwerk, nicht nur durch die Worte.
Ich danke der wunderbaren starfruit publications, meiner
ersten Neuentdeckung im Bereich Verlage des neuen Jahres, sehr herzlich für das
Rezensionsexemplar. Ich werde es jetzt allen Freunden, auch den
Lieblingsbuchhändlerinnen, empfehlen.
Schaut Euch auch bitte das Programm des Verlags an, da liegen noch weitere Schätze, die es zu entdecken gilt.
(c) Susanne Becker
amiland ist wahnsinn
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