„…, ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Inneren und
außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt, einen „totalen Roman“,
der in völliger Besitzlosigkeit enden würde, damit, dass sie sich von Menschen
und Dingen lossagt, bis nichts mehr übrig wäre,…“
Annie Ernaux‘ wunderbares Buch Die Jahre, erschienen im
Suhrkamp Verlag, versucht die Jahre, die man gelebt hat, einzufangen. Sie
vergehen, aber kann man vielleicht doch etwas halten von ihnen, weiter geben?
Bei der Lektüre musste ich oft daran denken, als ich die Schränke meiner Mutter
nach deren Tod ausräumte und sich immer wieder die Frage aufdrängte: Was bleibt
von einem Menschenleben? Bei der Lektüre kam es mir so vor, als meditiere Annie
Ernaux diese Frage bereits vor ihrem Tod, um das, was bleibt, der Nachwelt zu
übergeben. Aber auch, um es sich selbst vor Augen zu führen und es dann ganz loszulassen.
Das Buch protokolliert die Lebensgeschichte einer Frau, die in
den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Normandie geboren wurde, bis zum Zeitpunkt der
Niederschrift, etwa das Jahr 2006. Obzwar diese Frau Annie Ernaux ist, schreibt sie ganz
bewusst nicht in der Ich-Form. Denn es geht um etwas Allgemeingültiges. Es geht
schlicht darum, wie die Welt wurde, innerhalb der Generation, die sie ausmacht.
Was geschah, was formte sich und damit die Menschen. Formen die Individuen
eigentlich überhaupt irgendetwas, oder sind sie nur Teil einer großen
unübersichtlichen Krake? Politik, Gesellschaft, Kriege, Attentate. Keiner von uns ist allein.
Angelpunkte für das Abspulen der Jahre sind Fotos, wie
gefrorene Momente dieser verstrichenen Zeit, welche sie genau schildert, somit
die Äußerlichkeiten, die Veränderungen im Erscheinungsbild des Mädchens, später
der Frau notierend. Manchmal klingt es so, als würde sie sich selbst kaum
erkennen.
Ausgehend von einem Foto wird dann die Zeit beschrieben, in
kurzen Blitzlichtern, Erinnerungen: was man gelesen hat, welche technischen Geräte hinzu
kamen, was man beruflich tat, dass man ein Haus gebaut hat, das Studium, die
Arbeit als Lehrerin, die Heirat, die Geburt zweier Söhne und parallel dazu, aber
nicht losgelöst von diesem privaten Leben, die Politik: die Proteste von 1968, die
Illegalität von Abtreibung, der Algerienkrieg, Mitterand, Chirac, der 11.
September, das Öffnen der Berliner Mauer, der Irakkrieg.
Ein Protokoll der Veränderungen des Lebens in Frankreich. In
Europa. In dieser Welt. 60 Jahre.
Ein Protokoll der Veränderungen eines einzelnen Frauenlebens
in Frankreich. In Europa. In dieser Welt. 60 Jahre.
Beides ineinander verwoben. Untrennbar.
„Stattdessen will sie ihren Aufenthalt auf der Erde
dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen
haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich
abgespeichert hat.“
Dieses Buch hat wieder etwas, das ich in den letzten Jahren
immer mehr zu schätzen gelernt habe in Büchern: es ist wie eine Meditation. Es
ist konzentriert und klar, was sich auch in einer beinahe kühlen, protokollierenden
Sprache selbst da noch spiegelt, wo es um Tod und Verlust geht. Wenn ich jemals ein Buch hätte distinguiert
nennen wollen, dann dieses. Als Autorin stellte ich mir, und ich habe vor und
während der Lektüre nicht nach Bildern der Autorin gesucht, eine schöne, kühle,
distinguierte Französin vor. Intelligent natürlich. So wie ich aus einfachen
Verhältnissen stammend. Ja, ich fühlte mich ihr über die 256 Seiten der Lektüre
verbunden, auch wegen der Herkunft. Auf dem Umschlag vorne ist ein Bild der
Autorin, da war sie vielleicht 30, würde ich schätzen, feine Perlenohrringe,
ein sanft in die Leere gerichteter Blick. Das Buch ist eine Meditation darüber, was ein Leben ausmacht.
Es ist individuell, indem es ihre eigene Geschichte
Bild für Bild einfängt, es zeigt aber so deutlich auf jeder Seite, wie sehr
jedes individuelle Leben Teil der Gesellschaft ist, diese konstituiert und
umgekehrt, von ihr durchdrungen ist.
Spannend fand ich immer wieder die Stellen, wo sie zeigt,
wie sich das Leben im Außen verändert, wie unsere Gewohnheiten aufgrund der
kapitalistischen Konsumgesellschaft, die voll auf Haben ausgerichtet ist, peu à
peu geformt werden, so dass man vor allem erst einmal Einkäufer wird. Die
Menschen verbringen ihre Freizeit einkaufend. Das Einkaufen ist zum wichtigen
Hobby geworden.
„Die Orte, an denen sich die Waren präsentierten, wurden
immer größer und schöner, immer bunter und sauberer, ein krasser Gegensatz zu
den verwahrlosten Metrostationen, Postämtern und öffentlichen Schulen….“
Häufig erwähnt sie den Alltagssoziologen Bourdieu in diesem
Buch, und ich sehe die Verwandtschaft: Annie Ernaux hat ihre eigene Geschichte,
scheinbar wie von außen, zu Protokoll gebracht und was ein kleiner
autobiografischer Bericht hätte werden können, ist nicht mehr und nicht weniger
geworden als das Protokoll einer ganzen Generation anhand alltäglicher Vorkommnisse,
Gewohnheiten, wie wir wohnen, welche Werbung im Fernsehen läuft, welche
Kleidung wir tragen, und somit ist es die minutiöse Beschreibung des Weges, der
uns ins Hier und Heute gebracht hat, wo rechte Tendenzen immer stärker werden,
wo viele Menschen sich nicht für die Demokratie interessieren und sich mit
Waren, die sie im Grunde nicht benötigen, ruhig stellen.
Ich habe das Buch unglaublich gerne gelesen und möchte es Euch deshalb ans Herz legen.
Eine weitere Besprechung findet ihr hier, bei literaturleuchtet.
Und hier ist noch ein tolles Video, in welchem Annie Ernaux
selbst über ihr Buch spricht.
(c) Susanne Becker
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