Heute im Garten Haruki Murakami gelesen, Von Beruf Schriftsteller.
In dem Buch traf mich eine Erkenntnis, die mich aufrüttelte in Bezug auf die Frage, was bei meinem eigenen Schreiben immer noch ein großer Schwachpunkt ist. Wir können das Ganze auch gleich flächendeckend anwenden: was in meinem eigenen Leben ein Schwachpunkt ist. Leben und Schreiben sind ja eins. Auch das fand ich in diesem wunderbaren Buch vom Schreiben Seite um Seite bestätigt. Schreibender sein ist wie Mensch sein, atmen, es ist kein Beruf, den man jemals ablegt, sondern eher eine ganz eigene Weise der Existenz.
Zurück zur Schwachstelle: Es ist meine allzu schnelle, oft
mit Überheblichkeit gepaarte Eigenschaft, auch Bereitschaft, beständig Schlüsse
zu ziehen.
„Es gibt Charaktere, die ihre Mitmenschen und das, was um
sie herum geschieht, rasch und entschieden analysieren und so in kürzester Zeit
zu eindeutigen Schlussfolgerungen … gelangen. Allerdings haben solche Menschen
keine besondere Veranlagung zur Schriftstellerei…“
Er empfahl diesen Menschen, Journalisten oder
Kritiker zu werden. Das würde ihrem Naturell vermutlich eher entsprechen.
Ich las diese Stelle und es fielen mir die Schuppen, die
Jalousien von den Augen. Ich stülpe in einer
schon fast gewaltsamen Geste, jedem Menschen, jedem Geschehnis meine Deutung,
Analyse, Interpretation über. Ich gehe davon aus, dass ich recht habe. Anstatt
einfach, und da liegt die Betonung tatsächlich, auch sprachlich ist sie so zu
verstehen und das bestätigt jedes einzelne Buch von Murakami, die Betonung liegt
auf einfach, sowohl im Reden mit anderen als auch im Schreiben den Leuten die Welt nicht zu erklären, sondern zu erzählen. In einfachen Sätzen
einfache Tatsachen schildern. Das geschieht, dann dies, er hat dabei rote Haare und trägt
eine zerlöcherte Jeans – Schreiben und Reden, ohne zu interpretieren, das ist
eine wirkliche spirituelle Praxis. Sich dies vorzunehmen, dies zu üben,
verändert auf der Stelle alles. Während ich noch auf meiner Liege lag und in
die nicht mehr lange kahlen Kirschbäume träumte, fiel ein derartiger Ballast
von mir ab. Weil klar wurde, wie anstrengend es ist, immer alles zu deuten, und
dass ich mit dieser von Murakami inspirierten Einstellung viel leichter würde leben können. Ich lächelte eine Hummel an, die laut surrend um meinen Liegestuhl
kreiste. Dickes, pelziges Insekt. Summt sehr laut. Umkreist mich. Hallo
Freundin!
Eine zu schnell getroffene Schlussfolgerung stellt sich oft
als falsch heraus und dann ist man in Verlegenheit.
„Erfahrungsgemäß sind … die Fälle, in denen eine Entscheidung
dringend notwendig ist, sehr viel seltener als wir annehmen.“
Man kann also ganz in Ruhe und ohne das System mit
vorschnellen Deutungen zu verstopfen, Fakten sammeln, Beispiele, Begegnungen,
Gerüche, das Verhalten anderer Menschen und sich nichts dabei denken. Einfach
nur sammeln! Die Erklärung, die Deutung, die Entscheidung kommen ja, und das
ist mir durch meine Meditationspraxis im Grunde auch längst klar, nur dass ich
es immer wieder für lange Zeiträume vergesse. Man kann vollkommen darauf vertrauen,
dass die richtige Entscheidung, das richtige Urteil, die gültige Erklärung
immer kommen, irgendwann, und eigentlich eben nicht irgendwann, sondern zum für
diese Entscheidung genau richtigen Zeitpunkt. Wie aus dem Nichts, also der
Stelle in einem selbst, die so wunderbar rauscht, wie das Meer, diese riesige Landschaft
des Menschseins in einem, aus der heraus steigt die Erklärung. Nein, eigentlich
ploppt sie. Sie steigt auf aus dieser Landschaft und bei mir tut sie das oft
mit einem lauten Plopp!
„Dazu kann ich im Moment nichts sagen.“ Wie oft sagt man das?
Wie oft lässt man sich die Zeit, erst dann etwas zu sagen, wenn man etwas sagen kann?
"Dazu kann ich im Moment nichts sagen" - aber als Yogaübung für den Geist. Anhalten, in der Position verbleiben, atmen, kein Urteil fällen und in die Regionen hinein atmen, die sich als verkrampfte outen.
"Dazu kann ich im Moment nichts sagen" - aber als Yogaübung für den Geist. Anhalten, in der Position verbleiben, atmen, kein Urteil fällen und in die Regionen hinein atmen, die sich als verkrampfte outen.
„Jedenfalls sollte jemand, der Schriftsteller werden will,
seinen Stoff nach Möglichkeit so aufnehmen und sammeln, wie er ist, statt
überstürzt Schlüsse zu ziehen. Das gespeicherte Rohmaterial lässt er in seinem
Inneren arbeiten.“
Dieser Murakami-Tipp gilt ja nicht nur für das Schreiben. Er
ist hilfreich für die gesamte Lebensausführung. Er nennt das „minimale Datenverarbeitung“.
Das ist der Unterschied zu meiner eigenen Lebensausführung:
Ich betreibe maximale Datenverarbeitung. Als Beispiel: Ich sehe ein Ohr und wie
jemand sich daran kratzt, und schon bin ich stundenlang oder länger, ja, oft
länger, damit befasst, die das Ohr tragende und kratzende Person bis in ihre
winzigsten Nischen hinein zu kategorisieren, zu analysieren, zu beurteilen. Ich
spiele mich auf, als wüsste ich von alles von dieser Person. Ich kann durch die
Haut hindurch in ihr Innerstes blicken. Wenn ich lange genug nachdenke, kann
ich mir sogar ihre Vergangenheit und ihre Zukunft vorstellen und halte diese Vorstellungen durchaus für bare Münze. Nicht selten richtet sich mein gesamtes Tun an diesen Vorstellungen aus, die nichts als Fantasie sind.
Minimale Datenverarbeitung würde mir unglaublich viel Zeit
lassen, die Welt zu beobachten. All die Stunden, die ich mit der Geschichte der
ihr Ohr kratzenden Person verbracht hätte, wären plötzlich frei. Zu meiner
freien Verfügung.
Diese Herangehensweise hat etwas sehr buddhistisches. Denn
auch im Buddhismus ist ein großes Prinzip des Handelns, dass man sich nicht,
indem man sie glaubt und ernst nimmt, in seinen eigenen Gedanken und Gefühlen verstricken
sollte. Oder in denen der anderen um einen herum. In deren Geschichten. All diese
Verstrickungen sind maximale Datenverarbeitung. Das Ziel ist aber minimale
Datenverarbeitung. Ein Vertrauen in den Prozess. Ich sammele die Daten,
speichere sie in meinem Inneren und ihre Bedeutung wird sich mir erschließen.
Im Grunde muss ich nichts tun. Ich bin frei.
Darüber hinaus ist Murakamis Buch eine wunderbare
Schilderung seines Lebens, seines Schreibens, seiner Erkenntnisse über die
Menschheit und darüber, wie er mit seinem Körper umgeht, der ja ein wesentliches Vehikel für den Menschen ist, der jeden Morgen um fünf am Schreibtisch sitzen und schreiben möchte. Es liest sich wie ein Protokoll der Wahrheiten, die sich ihm aus
seiner Datensammlung fast wie von selbst eröffnet haben. Unaufgeregt,
schnörkellos und elegant.
Vor der Lektüre war ich kein Murakami Fan, ich gebe es zu.
Während der Lektüre verliebe ich mich gerade in ihn. Wie schön, dass ich auf
meinem Regal, meinem gigantischen SuB, noch zwei ungelesene Murakami-Bücher
habe: Die Doppelausgabe seiner beiden ersten Romane Wenn der Wind singt und Pinball 1973, über deren Entstehungsgeschichte sehr viel in Von Beruf Schriftsteller zu finden ist, sowie Mister Aufziehvogel.
"Fast allen Autoren, die einen Roman beendet haben, steigt das Blut in den Kopf, ihre Hirnmasse überhitzt, und sie verlieren den Verstand. Warum das so ist? Zum großen Teil liegt es sicher daran, dass von vorneherein ausgeglichene Menschen sowieso keine Romane schreiben."
(c) Susanne Becker
"Fast allen Autoren, die einen Roman beendet haben, steigt das Blut in den Kopf, ihre Hirnmasse überhitzt, und sie verlieren den Verstand. Warum das so ist? Zum großen Teil liegt es sicher daran, dass von vorneherein ausgeglichene Menschen sowieso keine Romane schreiben."
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