„Seit Tagen gelingt es mir nicht mehr, das Böse als Ausnahme
von der Regel des Guten zu begreifen.“
Die Stille ist ein Geräusch ist ein Reisebericht über eine Reise durch Bosnien. Er
ist geschrieben von einer Frau, Juli Zeh, die sehr gut schreiben kann, mutig ist und in
dieses vom Krieg zerstörte und tief verwundete Land reist, ohne eine Meinung zu
haben, ohne sich ein Wissen einzubilden, das ja nur aus zweiter Hand
stammen würde. Sie fährt mit einem Hund und mit vielen offenen Fragen. Zum
Beispiel: Wo wachsen die Melonen?
Es ist Sommer, das Jahr 2001, Juli Zeh will mit ihrem Hund
nach Bosnien, und dafür informiert sie sich zunächst an einer Stelle, an der
viele Reisen beginnen. „Die Frau im
Reisebüro….“Was wollen Sie dort? Da ist doch Krieg!“ Gewesen! Ich verzichte auf
Richtigstellung….“
Sie sagt, dass sie dort recherchieren möchte und so gelingt
ihr eine Buchung. Touristenführer gibt es für das Land nur noch aus den 80er
Jahren, mit Bildern von Dingen, die vielleicht nicht mehr existieren.
„Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den
man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom
Erdboden verschwunden ist.“
Sie fährt nach Bosnien-Herzegowina und weiß im Grunde selbst
nicht, warum. Vielleicht, weil uns in Deutschland, unserer Generation, der
Krieg noch nie so nah gekommen ist wie seinerzeit in Jugoslawien. Da wurde er
plötzlich zu etwas beinahe Realem, etwas, das jedem und überall geschehen kann.
Sie fährt hin, um zu sehen, wie ein Land ausschaut, nach dem Krieg. Aber
eigentlich fährt sie auch hin, und sie hat den Mut, diesen Krieg beinahe zu
ignorieren, um das Land zu sehen. Sie behandelt das Land und seine Bewohner wie
ein normales Land, also ein Land, in dem nicht gerade Nachbarn einander
ermordet haben. Das ist ein Geschenk an dieses Land. Eigentlich ein Geschenk an
das Leben ist es, was Juli Zeh mit diesem Buch leistet, mit dieser Reise:
Unvoreingenommenheit. Wann begegnet man der schon, heutzutage? Jeder hat immer
zu allem eine Meinung, und dank Facebook und Twitter et cetera, werden einem
diese Meinungen ständig um die Ohren gehauen. Man selbst haut kräftig mit. Dass
sie es dennoch schafft, immer einfach nur Fragen zu stellen, sich offen zu
halten, ist eine große Leistung. Auch deshalb ist Die Stille ist ein Geräusch,
das ich in den letzten Wochen zum zweiten Mal gelesen habe, immer eines meiner
Lieblingsbücher dieser Autorin gewesen. Weil die Haltung, so ein bisschen naiv,
offen, eine ist, mit der ich eigentlich auch durchs Leben möchte, und zwar bis
zum Schluss. Wo wachsen die Melonen?
Auf ihrer Reise durch Bosnien trifft Juli Zeh auf viel
Fachleute, die alle eine Meinung haben, vor allem zum Grund des Krieges, oder
auch, wie es weitergehen sollte in diesem Land. Das kennt man irgendwie aus
allen Weltgegenden, in denen so dramatisch etwas schief geht, dass dort die „Spezialisten“
aller Couleur einrücken und dem Rest der Welt diese Gegend erklären, objektiv
natürlich, ist ja klar!
Frage: Warum war Krieg und gegen wen?
Immer wieder trifft Juli Zeh auf eine Journalistin, die sich
im Grunde immer noch als Kriegsberichterstatterin sieht, die von sich selbst
beeindruckt ist, weil sie es aushält in einem solchen Land.
„Dieses Land ist ein Pulverfass! Es klingt wie etwas, auf
das sie persönlich stolz ist. Ich sage ihr, dass ich nicht das Gefühl habe, ein
Pulverfass zu bereisen.
„For God’s sake, my dear!“
Ich komme mir naiv vor,…“.
Die Zeh ist vielleicht auch naiv. Frage: Warum gibt es
keinen McDonalds?
Manchmal scheint sie fast ahnungslos hinter SFOR oder
UN-Leuten herzustolpern, durch vermintes Gelände oder in denkwürdigen Orten,
deren Namen alle kennen, aufgrund der dort produzierten Leichenmengen, der absoluten
Grausamkeit, die dort im letzten Jahrhundert ein paar weitere Eckpfeiler
sammeln durfte: Srbrenica, Sarajevo, Tuzla. Aber gerade diese Naivität ist es,
die ihr Einblicke und Erlebnisse gewährt, die niemand haben würde, der schon
eine vorgefasste Meinung hat. Sie begegnet ständig Menschen, auf Augenhöhe,
nicht als Besserwisserin. Es ist nicht so, dass sie den Krieg ignoriert. Das
geht ja auch gar nicht. Denn an jeder Ecke begegnet ihr die Zerstörung, in Form
von niedergebrannten Dörfern, beschossenen Gebäuden, der Sniper Alley in Sarajevo
oder den Menschen, die ausnahmslos traumatisiert sind. Aber sie nimmt das
alles, genau wie die Menschen, ganz offen auf und lässt es zu, dass dadurch
auch etwas mit ihr geschieht. Schlaflosigkeit, zum Beispiel: „Jetzt ist es
amtlich, ich kann nicht schlafen. Manchmal hilft Ehrlichkeit: Es liegt nicht an
der Klimaumstellung. Bei Tag, in der Stadt, gibt es ihn nicht, diesen Krieg,
auch wenn er an jeder Ecke, in jedem zweiten Satz der Menschen seine
Markierungen hinterlassen hat. .. Er kommt bei Nacht, wenn ich in einem
kleinen, zu gut ausgestatteten Zimmer liege, zwischen den Teppichen, Spiegeln
und bereitgestellten Pantoffeln, wo es still ist bis auf das Rauschen der
Klimaanlage, abgeschnittene Geschlechtsteile, Massenerschiessungen und die
Minuten davor, über brennende Häuser und den Geruch in den Lagern.“
Sie ignoriert den Krieg nicht. Sie lässt ihn hautnah an sich
heran und präsentiert uns in diesem kleinen Buch die Verwirrung, die es bei den
Menschen auslöst, wenn sie der Grausamkeit der eigenen Spezies so ungeschminkt
begegnen. Da hat sich alle Lamoryanz erledigt.
Es gibt kein klares Gut und Böse. Aber es gibt, auch nach
dem Krieg, die ständige Bedrohung durch vergrabene Mienen, ganze Landschaften sind
abgesperrt, manchmal nicht so eindeutig, dass man nicht doch versehentlich
hinein geraten könnte mit dem Hund und schweißgebadet hofft, wieder
herauszukommen, heil. „Falls ich mal ein Buch schreibe, soll ich erwähnen, dass
es acht Unfälle pro Monat gibt und das Land frühestens in hundert Jahren
minenfrei sein wird,…. Ich soll sagen, dass es Bosnien schlimmer erwischt hat,
als Kambodscha, ….“
Frage: Wie heißt die Farbe der Neretva?
Dies ist wirklich ein ganz wunderbares Buch, über den Krieg,
und was er anrichtet. Es ist auch ein Buch über ein Land, seine unglaubliche
Schönheit, die ein Krieg vielleicht überschatten, aber niemals vernichten kann.
Es ist eine Liebeserklärung, verzweifelt.
„Ich fühle mich, als wäre das Land durch mich gereist und
kehrte nach Hause zurück, während ich übrigbleibe, mit hängenden Armen.
Bereist.
Keine meiner Fragen habe ich beantwortet.“
Es gibt einen Brief von Rainer Maria Rilke an Franz Xaver
Kappus, vom 16. Juli 1903, darin heißt es unter anderem: „Leben Sie jetzt die
Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen
Tages in die Antwort hinein.“
Ich danke dem btb Verlag herzlich dafür, dass sie mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben.
(c) Susanne Becker
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