„gewaltige Ressourcen an Langeweile und Einsamkeit ausbeuten,
um ungestört zu schreiben“ Nell Zink
Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie eine neue
Schriftstellerin entdeckt. Ihr Name war Nell Zink. Sie lebte nur eine Stunde
entfernt von Berlin, in einer sehr kleinen brandenburgischen Stadt, sie hatte auch mal in Virginia gelebt, sie war im gleichen Jahr wie sie geboren. Das reichte ihr persönlich, also, das waren genug Parallelen, um sich mit ihr auf eine seltsame Art und
Weise seelenverwandt zu fühlen.
Diese Nell Zink hatte jahrzehntelang praktisch
für sich selbst geschrieben, oder für einen Freund, und sich mit
Gelegenheitsjobs, zum Beispiel auch als Sekretärin (womit sie eine weitere
Parallele gefunden hatte!) über Wasser gehalten. Sie hatte gar nicht wirklich
damit gerechnet, jemals veröffentlicht zu werden. Sie hatte auch keinerlei Lust
auf den Literaturbetrieb. Ihren literarischen Durchbruch hatte sie dann Jonathan
Franzen zu verdanken. Dem hatte sie nämlich, als Antwort auf einen Essay über
Vogelmord im Mittelmeerraum, ein dort sehr akutes Problem, eine entrüstete
Email geschrieben, weil er den Vogelmord in Bosnien in diesem Essay nicht
erwähnt hatte. Daraufhin entspann
sich zwischen den beiden ein Emailaustausch, wohl eher über Vögel, als über
Literatur, den Franzen aber dennoch so wunderbar fand, dass er irgendwann zu
dem Schluss kam, nicht nur er sollte etwas von Nell Zink lesen dürfen. Er
versuchte, ihre Manuskripte an Verlage zu vermitteln, erfolglos. Ihr selbst
gelang es, einen ganz kleinen New Yorker Verlag zu finden, der einen Roman von
ihr heraus brachte, für praktisch kein Geld, aber sie musste das vermutlich
tun, um Franzen zu beweisen, dass es ging. Daraufhin nahm sich Franzens Agent
ihrer an und verkaufte die Rechte an dem Buch unter anderem nach Deutschland.
Sie bekommt mittlerweile sechsstellige Vorschüsse auf Buchverträge. Sie lebt in
einer spärlich eingerichteten Wohnung in Bad Belzig. Sie sagt Dinge wie „Ich
versprach mir nichts vom Leben als schreibender
Mensch“. Womit leider ein entscheidender Unterschied zwischen ihnen beiden festzustellen wäre. Denn sie selbst hatte sich praktisch alles vom Leben als
schreibender Mensch versprochen. Geld, Glück, Zufriedenheit, Ruhm, Anerkennung,
Liebe, Bewunderung, ein tolles Haus auf dem Land, Freunde, Bewunderer und
inneren Frieden. Nicht notwendig in dieser Reihenfolge, aber in dieser Vollzähligkeit. Verrückt, wie sehr sie all ihre Bedürfnisse und Hoffnungen
seit vierzig Jahren auf das Schreiben projiziert hatte, ihm treu geblieben war,
obwohl es keine dieser Hoffnungen erfüllt hatte. Das Schreiben war
möglicherweise ihre ganz große Liebe. Ihre ganze große Illusion. Aber das stimmte nicht ganz. Denn sie hatte durch das Schreiben einen Zugang gefunden zu diesem riesigen Reservoir an Langeweile und Leere, das in jedem wohnt und das die meisten gar nicht gut kennen. Sie hatte es kennen gelernt. Sie war mitten drin. Sie war noch lange nicht damit am Ende. Das war keine Illusion.
(c) Susanne Becker
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