Heute hatte sie sehr viel durcheinander gelesen. Das tat sie
in letzter Zeit häufiger, vor allem immer dann, wenn kein Buch es schaffte, sie
ganz zu fesseln. Sobald dies einem Buch gelang, sie so richtig an sich zu reißen,
dann las sie nur noch dieses. In letzter Zeit gelang dies selten. Das letzte
Buch, das sie so gefesselt hatte, war Überbitten von Deborah Feldman gewesen,
ansonsten in diesem Jahr nur Seethaler
und Erpenbeck bislang. Seit über sieben Monaten sehnte sie sich verzweifelt
nach Büchern, die sie zogen, aber meistens zog sie sich durch die Bücher und in
letzter Zeit kam ihr immer mal wieder der Gedanke, eine Lesepause einzulegen,
um sich einfach mal ungestört die Leere in ihrem eigenen Kopf anzuschauen, oder
auch das Gerede.
Heute hatte sie gelesen, u.a. in The Penguin Anthology of20th Century American Poetry, ein Gedicht von Edgar Lee Masters, in dem es hieß:
Where are Ella, Kate, Mag, Lizzie and Edith,
The tender heart, the simple soul, the loud, the proud, the
happy one? –
All, all, are sleeping on the hill.
One died in shameful child-birth,
One of a thwarted love,
One at the hands of a brute in a brothel,
One of a broken pride, in the search for heart’s desire,….
All, all are sleeping, sleeping on the hill.
The Hill, offensichtlich der Friedhof, der Ort, an dem die
Toten schlafen, nachdem sie das ein oder andere Leben gelebt hatten. Der Ort,
an den wir alle gehen, nachdem wir das ein oder andere Leben gelebt haben. Der Weg dorthin ist für jeden etwas undurchsichtig. Man hofft, dass man eines Tages aufwacht (bzw. nicht mehr aufwacht) und dort ist, wahrscheinlicher ist es aber, dass der Weg dorthin ein wenig mühsamer ausfallen wird. Der
Ort, an dem wir viel länger sein werden als in diesem einen oder anderen Leben,
in dem wir oft genug nicht wissen, was wir mit unserer Zeit anfangen sollen.
Wie viel davon sind wir bereit zu vergeuden? Wie viel davon nutzen wir wirklich?
Die menschliche Existenz schein sehr angsteinflößend zu sein, denn die meisten
Menschen, die sie kennt, betäuben sich, um sie auszuhalten: Smartphones,
Haschisch, Wein, Fernseher, Internet sind in ihrem Umfeld die gängigsten
Betäubungsmittel. Sie selbst versucht
gerade, sich nicht zu betäuben. Ihr Ziel ist es, immer klarer zu werden. Das ist nicht immer einfach. Sie weiß aus erster Hand, dass es beunruhigend und schmerzhaft ist, als Mensch zu leben.
Das andere Buch, Das Amerika der Seele, in dem sie schon eine Weile liest, das sie
manchmal packt, dann wieder langweilt, dann geradezu anwidert (wenn er darüber
schreibt, wie er scheißt), das sie mit seinen einzelnen Essays bislang nicht
so viel anfangen konnte, wie es seine Bücher Lieben oder Leben geschafft haben. Im
Grunde nur Lieben so richtig. Leben, auch Sterben, fand sie eher schwierig,
wenn auch suchterzeugend. Knausgard, von wem wohl sonst sollte hier die Rede
sein. Träumen hat ihr der Verlag zwar geschickt, es ist aber leider nie bei ihr
angekommen.
Kämpfen, sie weiß nicht, ob sie es lesen möchte, Spielen
genauso. Sie mag Knausgard, vor allem dafür, dass er bei Kind und Kegel die
Disziplin aufbringt, jeden Morgen sich um 5 an den Schreibtisch zu schleppen
und diese vielen, oft sehr klugen, oft sehr tiefen, in jedem Fall unverrückbar
wahren Worte aus sich heraus aufs Papier zu lenken. Dafür liebt sie ihn. Dann
wieder geht er ihr unglaublich auf die Nerven. Er geht sehr tief, um dann wieder,
unvermittelt, labernd an der Oberfläche zu bleiben, sätzelang, seitenlang. Das
nervt sie. Ihr fehlt der Fokus, die Konzentration. Heute las sie bei ihm über
Sloterdijk „Seit Beginn des modernen Zeitalters, also seit Pascals Zeit, hat
die menschliche Welt konstant, jedes Jahrhundert, jedes Jahrzehnt, jedes Jahr
und jeden Tag lernen müssen, neue Wahrheiten über „ein nicht auf den Menschen
bezügliches Außen hinzunehmen und zu integrieren“, schreibt Sloterdijk, und
bezeichnet die Menschen als „Idioten des Kosmos“.
Man landet auf dem Hill, egal, was man macht. Das Universum schert sich nicht wirklich um uns. Nimm das, Mensch und mach das beste daraus.
Der Mensch ist das Wesen, vielleicht das einzige Wesen, das
seine Situation analysieren kann. Auf diese Welt geworfen mit der Fähigkeit,
böse zu sein, was letztlich Sinnbild seiner Freiheit ist, plus, er kann sich
selbst auch noch dabei zusehen, es reflektieren, wenn er so richtig in die
Tonne greift. Dass er böse werden kann, das ist der ultimative Freiheitsbeweis.
Dass der Mensch sich dagegen entscheiden kann, ist umso mehr ein Beweis seiner Freiheit. Dass er sich angesichts des Hills und der absoluten Gleichgültigkeit des Universums dazu entschließen kann, gut zu sein, das ist im Grunde fast übermenschlich. Er kann der Versuchung widerstehen und allen Verlockungen zum Trotz ein
unglaublich helles Licht in sich anzünden und gut werden, so richtig gut. Kein
Wesen kann so gut werden, wie ein guter Mensch, wegen der Absicht. Nimm das,
Trump und deine Freakshow von Familie! Aber für all das wird es niemals eine
Goldmedaille geben, niemals eine Belohnung. Sterben werden auch die besten.
Auch sie landen auf dem Hill, genau neben den Schlechten. Das machte ihr Angst.
Nein. Das macht ihr eigentlich gar keine Angst. Das war jetzt aus den Tasten
geplumpst wie eine Floskel. Es macht ihr vielmehr Angst, dass sie auf dem Hill landen
könnte, bevor sie alles verstanden hatte. Auch Knausgard wird auf dem Hill
landen, und dann wird irgendwann wieder jemand von vorne damit anfangen, um 5
aufzustehen und Wahrheiten aus seinem tiefsten Inneren auf ein leeres Blatt
Papier zu lenken. Sie glaubt, dass man als Mensch die Gabe hat, wirklich viel
zu verstehen, alles, im Grunde das ganze Leben. Weitergeben kann man dieses
Wissen nicht. Leider. Die Belohnung ist das Verstehen. Denn es bringt Frieden.
Sie hat keine Geduld mehr mit Menschen, die sich darum nicht bemühen, nicht aufrichtig.
Sie interessiert sich eigentlich nur noch für Menschen, die in den kreativen
Raum gehen, in die absolute Stille und Leere, die dort herrschen, eintreten,
und dann in einem kreativen Akt alles zutage fördern, was sie dort in sich
finden. Oder vielleicht es auch nicht zutage fördern. Vielleicht ist das nicht immer
nötig. Es geht primär darum, dort zu verweilen und Licht zu machen. Solange wie möglich, so hell wie möglich. Das hört sich sehr einfach an, ist aber im Grunde so eine Art Quantenphysik.
Menschen, die sie wirklich bewundert, sind diesbezüglich
Nick Cave, Marina Abramovic, Georgia O’Keeffe. Sich kompromisslos in diesen
Raum begeben. Auch Karl Ove Knausgard tut dies. Sie mag nicht alles, was er
schreibt. Aber sie mag, dass er schreibt und dass er mit dem, wie er es
erschafft, ein unglaublich starkes und beeindruckendes Plädoyer für das Gute im
Menschen, das Stille und Leere, hält, aus dem heraus der Mensch, wenn er es
möchte, ein helles Licht anzünden kann. Dafür ist sie ihm dankbar.
Obwohl dies noch keine Rezension des Buches ist möchte sie dem Luchterhand Verlag doch schon einmal sehr herzlich danken dafür, dass er ihr ein Rezensionsexemplar hat zukommen lassen.
(c) Susanne Becker
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