„Ich bin so um die 40. Das sagt man heute auf Partys, zu
denen einen keiner einlädt,…Ich bin 176 Zentimeter groß, ich wiege 56 kg, ich
habe irgendwelche Haare, meine Augen sind blau, aber nicht sehr, und meine Haut
wird immer weicher oder das Fleisch darunter, … Ich wohne in einer deutschen Stadt,
die wirkt, als wäre sie komplett besoffen. …. Ich habe mich für kaum etwas
bewußt entschieden, ich habe es passieren lassen, das Leben.“
Das ändert sich dann allerdings Schlag auf Schlag im Verlauf
der Geschichte: die Ich-Erzählerin beginnt, ihr Leben selbst in die Hand zu
nehmen und dies gelingt ihr trotz der mehr als widrigen Umstände (immerhin geht
quasi gerade die Welt unter) sehr erfolgreich.
Aber von Anfang an: Seit eben habe ich eine neue weibliche
Hauptperson in Büchern. Die Protagonistin aus Sibylle Bergs Roman „Ende gut“,
erschienen bei Rowohlt ist einfach in jeder Hinsicht so, dass ich immer weiter
das Geschehen dieser Welt, von ihr kommentiert, NUR von ihr kommentiert,
erleben möchte. (Was würde sie z.B. zu Trump sagen?) Diese schnoddrige, lustige und glasklare Stimme schildert das
Leben und seine Abgründe auf eine mir extrem sympathische Weise. Vorher hatte
ich Sibylle Berg noch nie gelesen. Keine Ahnung. Ich hatte immer gedacht, sie
würde mir nicht liegen. Dann sagte ein Freund: Du musst sie lesen, Du bist
genau, wie sie schreibt. Du wirst sie lieben.
Ich glaube nicht, dass ich bin, wie sie schreibt. Aber vom
ersten Satz an war ich in dieses Buch verknallt. Es klang mir so vertraut, die abgebrühte,
witzige Art, mit der sie über alles schreibt, ohne die geringste Ehrfurcht,
ohne Respekt, gerade deshalb aber irgendwie doch voller Ehrfurcht. Ich ahne, das klingt widersprüchlich, aber so ist das Buch ja auch.
Die Geschichte: Jene Protagonistin lebt also in dieser
besoffenen deutschen Stadt (und sind nicht irgendwie alle deutschen Städte ein
bisschen besoffen?) und hat kein besonders tolles Leben. Beschissene Wohnung,
beschissene Jobs, keine Freunde.
Bei einem beschissenen Date fliegen plötzlich die
Körperteile durch die Gegend. Attentat.
Innerhalb kürzester Zeit verwandelt sich die Stadt, das
Land, der Kontinent, die Welt, in ein einziges Notstandsgebiet, weil sämtliche phantasierten
und echten Terrorszenarien, die zum Beispiel die Wähler der AfD dazu gebracht
haben, die AfD zu wählen, Realität geworden sind. Atombomben fliegen, Amerika
ist im Krieg, Viren werden frei gelassen, Menschen krepieren städteweise.
Die Protagonistin macht sich auf den Weg, um zu fliehen, zu
suchen, was genau, weiß sie eigentlich gar nicht, denn so wirklich toll findet
sie das Leben ja nicht. Sie landet in Weimar, ihrer Geburtsstadt, aus der sie
irgendwann gen Westen geflohen war, noch vor der Wende.
"Die Innenstadt Weimars habe ich nach zehn Minuten gesehen. Wie erbärmlich die Orte der Kindheit auf einen Erwachsenen wirken. ... Es gibt im Hirn links hinten eine Schaltzentrale für die Beschönigung von Vergangenheit. Blöder Name, ich weiß, aber die heißt so. Wissenschaftlich. Dort wird über alle Erinnerungen ein kitschiger Weichzeichner-Hamilton-Schmier gelegt. Die Sonne wird hellgeschraubt. Wiesen farbig, Menschen gütig. Würden wir uns an unsere Vergangenheit in ihrer ganzen Schäbigkeit erinnern, kämen wir vielleicht schneller zu der Erkenntnis, dass auch die Zukunft nichts speziell Appetitliches bereithalten wird."
In Weimar sieht sie einem taubstummen
Mann dabei zu, wie er ein Auto knackt. Die beiden machen sich auf den Weg zu
den schönen Orten, die sie noch sehen wollen, bevor die Welt endgültig untergeht.
In Amsterdam, das unter Wasser steht und wo die Leichen
durch die Grachten treiben, stellen sie fest, dass es die schönen Orte nicht
mehr gibt.
Sie machen sich auf den Weg nach Helsinki. Das ist
überraschend intakt. Ein netter Finne nimmt sie mit nachhause und erklärt
ihnen, wo sein abgelegenes Ferienhaus liegt und dass sie es benutzen dürfen. Weil ihnen diese Großzügigkeit fast etwas peinlich ist, fahren sie erst einmal zu einer Insel, auf der sich Flüchtlinge aus allen europäischen Ländern eingerichtet
haben. Sehr schnell mutiert das Flüchtlingscamp zu einer Art Sektenlager, wo der
Guru Maik (der früher Seminare auf Mallorca abgehalten hat, Mallorca ist jetzt
aber komplett verstrahlt) Satsangs abhält und 3000 € Eintritt kassiert.
Die Protagonistin verlässt diesen Ort und sucht das
Ferienhaus.
Dort findet sie irgendwann der taubstumme Mann.
Sie leben dort gut bis an ihr Ende.
Die Geschichte ist deshalb so gut, weil sie so nah an all
dem ist, was gerade durch das Bewusstsein oder Unterbewusstsein eines Großteils
der westlichen Weltbevölkerung wabert. Die Angst vor dem totalen Terror, der unsere
Welt auslöscht. Geschrieben hat Sibylle Berg das Buch nicht lange nach 9/11.
Mittlerweile hat sich die Situation ja noch ein wenig verschärft und es klingt
für mich heute realistischer, als es mir vielleicht damals vorgekommen wäre.
Damals hat sie damit alle Ängste auf die Spitze getrieben, heute umschreibt sie auf vielen Seiten bereits existierende Realität. Sie tut dies gnadenlos, aber so witzig, dass
ich oft laut auflachen musste.
Abwechselnd mit der Haupterzählerin kommen andere Charaktere
des Buches O-Ton mäßig zu Wort. Auf diese Weise zeichnet das Buch eine
Landkarte deutscher Befindlichkeiten und Lebenssettings und man versteht einmal
mehr, wieso die AfD so viele Stimmen bekommen konnte. Kein Witz!
Last but not least sind Infohappen zwischen gestreut, welche
alle nicht erfunden sondern real sind. So lernt man ganz nebenbei, wie wenig
unrealistisch dieses Buch ist, und wie eine Wasserstoffbombe sowie chemische
Kampfstoffe wirken, mit welchen Viren man, eingelassen ins Trinkwassersystem,
den größten Schaden anrichten kann und weitere Einzelheiten darüber, wie
Terroristen, die es wirklich ernst meinen mit der Zerstörung der Menschheit,
dies sinnvoll anstellen könnten.
Man lernt auch, wie die Menschheit darauf möglicherweise
reagieren würde (klingt für meine Ohren alles recht plausibel) und dass es
immer irgendwelche Inseln gibt, auf denen man dann doch überleben kann. In
diesem Fall eben in Finnland, weil Finnland so uninteressant ist, dass kein
Mensch es zerstören will.
„Das ist das Geheimnis, zu uninteressant sein, als dass
irgendwer Erwartungen in einen setzt.“
Ehrfurcht also, ich erwähnte es oben bereits, für mich ist dies im letzten, guten Ende ein
Buch, das voll ist davon, weil sie es schafft, die Protagonistin und Sibylle
Berg, beide schaffen es, aus diesem ganzen Scheiß, aus dem so ein Leben mit
Terroristen, Weltuntergang, Atombomben, anderen Menschen besteht, eine
Auflösung zu kreieren, die sehr viel mit Loslassen zu tun hat, oder auch mit
Annehmen des Lebens, wie es nun einmal ist. In dem Moment, in dem die
Protagonistin los lässt, wird zumindest für sie alles gut! Man legt das Buch
beiseite, und empfindet nach Krieg und Untergang, nach Pest und anderen
Seuchen, eine Art Frieden, innerlich.
Ein wirklich tolles Buch, das mir, nur so als Zugabe, den Wahlabend versüßt hat, für den es in meinen Augen keine perfektere Lektüre hätte geben können. Danke dafür!!
P.S. Meine andere Lieblingsbucheldin ist übrigens Elizabeth Bennett. ( aus der Reihe: überflüssige Informationen)
(c) Susanne Becker
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