Direkt zum Hauptbereich

Buch der Woche - Mein Jahr in der Niemandsbucht von Peter Handke

„Ich mußte nach Hause in die Bucht, ohne meine Anwesenheit da, all das Jahr durch, verlöre das Buch seinen Ort und seinen Grund.“

Ein Buch wie eine Meditation.
Ein Schriftsteller schreibt über sieben Freunde, darunter sein Sohn, alle in irgendeiner Form auf Reisen. Er schreibt über die Frau, die er liebt, mit der er lebt, mit der er den Sohn hat und doch verlassen sie sich immer wieder, kann er das Leben mit einem Alltag kaum ertragen, denn alles ist eigentlich auf diese Meditation, die sein Schreiben ist, ausgerichtet. Alles andere stört den Fluß und die Konzentration.
Er lebt in einem alten Haus in der Nähe von Paris, absichtlich in einer klaren Entfernung zu dieser hektischen, auch wichtigtuerischen Metropole, in welcher das Wesentliche unter Hyperaktivitäten vieler Art verschüttet ist.
Aus diesem Haus und seinem Garten heraus unternimmt er tägliche Spaziergänge, im Grunde Wanderungen in die Umgebung.
Wer beginnt, dieses Buch zu lesen, wird sehr schnell in die Umhüllung der Worte gezogen, die Handkes Schreibkunst Seite um Seite entrollt. Ein säuselndes Beschreiben der Welt, die aus dem Haus besteht, seinem Garten, der Umgebung, der Häuser, der Bäume, der Tiere, der Freunde….
In seiner langsamen Genauigkeit konzentriert sich Handke darauf, das Wesentliche zu finden, welches dem alltäglichen Leben da draußen diametral entgegensteht und ihm doch an jeder Stelle eingewoben ist wie ein unsichtbarer Faden.
Der Schreiber beschreibt sein Jahr in der Niemandsbucht, in dieser Landbucht außerhalb von Paris, die niemand kennt, die niemandem etwas bedeutet, wo außer ihm und den Alteingesessenen, die wirklich zum größten Teil alt sind, älter als er, niemand hin möchte. Selten nur verirrt sich ein Fremder dorthin. Selten nur besucht ihn ein Freund.
Dieses Jahr in der Niemandsbucht ist wie ein weißes Blatt, das er mit seinem Leben, behutsam, Tag für Tag, füllen (beschreiben) kann. Behutsam denn, es sollte nichts hinein gelassen werden, das nicht wesentlich ist. Wesentlich ist die Verwandlung, die geschieht, die unvermeidlich geschehen muss, wenn man so hochkonzentriert bei der Sache bleibt.
„Jede Epoche meines Lebens wurde bestimmt von dem täglichen Hin und Her zwischen Ausweglosigkeit und seelenruhigem Weitermachen. Weder vorher noch nachher habe ich je Stunden einer solch vollkommenen Ruhe erlebt. Und indem die Tage andauerten und ich, ob panisch oder seelenruhig, bei der Sache blieb, erschien mit der Zeit immer kräftiger an der Stelle des zwischendurch mich weiterwürgenden „Ende“ das Ding Verwandlung.“
Dass man das Wesentliche im Leben nicht durch irgendwelches Tun finden kann, sondern nur durch Lassen – indem man zum Beispiel an seinem Ort in der Niemandsbucht verweilt, der ein weißes Blatt ist, das aber auf gar keinen Fall gefüllt werden soll mit klugen Bewertungen, Urteilen, Meinungen oder Schlussfolgerungen. Es soll vielmehr gefüllt werden mit Beobachtungen. Der Schreiber in der Niemandsbucht beobachtet aus seinem Fenster und auf seinen Wanderungen das Geschehen in der Bucht, auch das Geschehen in sich, er fängt die Augenblicke ein und bringt sie auf die Seite.
Mein Jahr in der NiemandsbuchtDieses Buch ist eine Meditation. Es zu lesen, verlangsamt und beruhigt.
Man wird sich der Dinge um einen, der Gedanken in einem kristallklar bewusst und zumindest ich habe beim Lesen immer wieder den unbändigen Impuls, mit aller Sinnlosigkeit aufzuhören, um mein Jahr in der Niemandsbucht zu beginnen. Denn nur dort kann Verwandlung stattfinden.

Mein Jahr in der Niemandsbucht von Peter Handke ist eines der wenigen Bücher, die ich bislang in diesem Jahr gelesen habe, welches mich wirklich glücklich machte. Sehr große Leseempfehlung!

Und da wir schon beim Empfehlen sind, möchte ich noch einmal auf den wunderbaren Film hinweisen, Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte, durch den ich verspätet, aber Gott sei Dank nicht zu spät, erst Handke für mich enteckt habe. Am Anfang des Jahres habe ich noch sein Wunschloses Unglück besprochen. Auch dies ein für mich herausragendes Buch.

(c) Susanne Becker




Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso