Immer wenn ich merke, dass es für Menschen eine Vorstellung von Welt gibt, auf die sie ohne Zweifel bauen, fühle ich mich allein. Ausgeliefert. Sie sprechen davon, Dinge mit Sicherheit zu wissen, sie erzählen, wie etwas gewesen ist oder sogar wie etwas sein wird, und ich merke dann immer, wie sehr ich nichts weiß von dem, was als nächstes passieren könnte.
Das Buch Ausser sich von Sasha Marianna Salzmann, 2017 im Suhrkamp Verlag erschienen, lag relativ lange angelesen auf meinem SuB und ich konnte mich nicht aufraffen, es zu beenden. Seite 20 oder so, weiter kam ich nicht.
Das Buch Ausser sich von Sasha Marianna Salzmann, 2017 im Suhrkamp Verlag erschienen, lag relativ lange angelesen auf meinem SuB und ich konnte mich nicht aufraffen, es zu beenden. Seite 20 oder so, weiter kam ich nicht.
Ein wenig ging ich vermutlich anfangs in den Wirren der Geschichte
verloren, die zwischen Russland und der Türkei, zwischen Deutschland, der
Gegenwart und der Vergangenheit hin und her zu springen scheint.
Ali kommt nach Istanbul, um ihren Bruder Anton zu suchen.
Sie schläft auf der Couch eines Onkels, Cemal und wird dort von Wanzen
gebissen.
Aber eigentlich kommen Ali und Anton aus Russland. Sie sind
Juden. Sie haben lange Stammbäume, russische, jüdische. Aber sie leben als Kinder in
Moskau. Grau. Öde. Beengt.
Warum also Istanbul?
Sasha Marianna Salzmann ist Hausautorin am Maxim GorkiTheater in Berlin. Dort ist die Welt zuhause. Auch die Weltoffenheit. Das ist
einer der Gründe, warum ich dieses Theater liebe. Es gibt dort nur Fellow
Citizens. Es gibt keine Flüchtlinge, keine Asylanten, keine Anderen. Alle sind
Menschen, die absolut die gleichen Rechte haben. Punkt.
Im Laufe der letzten Jahre, auch gezwungen durch persönliche
Erlebnisse, ist diese Sichtweise immer dezidierter meine geworden, obwohl sie
es im Grunde immer schon war. Ich bin so aufgewachsen. Mein Großvater hat in
unserer Küche die ganze Welt an den Tisch geholt, was ich als Kind, unter dem
Tisch sitzend und den Geschichten der türkischen, italienischen, portugiesischen, griechischen, schlesischen
Nachbarinnen lauschend, gar nicht begriff. Ich meine, das war 1970 und wir lebten in einer Art Dorf. Noch heute wundere ich mich, wie alle diese Menschen ausgerechnet an unserem Küchentisch landen konnten und wo sie her kamen. Ich lernte das Konzept, Menschen
nach Nationalität oder Hautfarbe zu unterscheiden, als Kind insofern nicht. Man kann
meiner Familie eine Menge nachsagen, es waren Alkoholiker, Choleriker,
Selbstmörder und Kinder wurden auch geschlagen, und irgendwie waren sie alle ziemlich prollig, aber es waren keine Rassisten,
niemals. Das Klima meiner Kindheit in diesem Punkt, nur in diesem, war von einem Geist durchdrungen, den ich erst jetzt, wo er so öffentlich und ständig
in Frage gestellt wird, zu schätzen weiß. Erst jetzt, in den letzten Jahren,
habe ich begriffen, was für ein Held mein Großvater war, und dass es nicht einem Zufall entsprang, als er sich der SS verweigerte. Genausowenig ist es natürlich ein Zufall, dass Informationen dieser Art nur hinter vorgehaltener Hand weiter gegeben wurden. Wie dankbar ich bin, dass sie dennoch bei mir gelandet ist, diese Tatsache, die einer Nachfahrin so viel bedeutet. Es ist entscheidend, von wem man abstammt. Niemand ist unabhängig vom Schicksal seiner Familie. Auch davon handelt dieses Buch.
Ausser sich ist Salzmanns Romandebüt.
Mit ihm landete sie 2017 sogleich auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
Nachdem ich das Buch gelesen habe, muss ich sagen, wie schade
ich es finde, dass sie ihn nicht gewonnen hat. (Gebe aber zu, demütig, dass ich Die Hauptstadt nicht gelesen habe, also im Grunde zero Urteilsgrundlage besitze) Denn das Buch ist ungewöhnlich,
mutig, in einem das-tut-regelrecht-weh-Sinn aktuell, politisch, feinsinnig und
poetisch.
Im Garten las ich es auf meiner Liege in zwei Tagen einfach
durch. Die Grillen sangen, die Vögel auch, die Insekten summten und manche
stachen mich. Nichts konnte mich davon abhalten, immer weiter zu lesen.
Das Buch handelt von Auswanderung, vom Verlust der Heimat,
von der Suche, nicht nach Glück, sondern einfach einem menschenwerten Leben.
Glück, die Suche, die Sucht danach, das ist so ein Privileg. Zu realisieren,
dass der Großteil der Menschheit nicht nach Glück, sondern nach ein wenig
Menschlichkeit in ihrem Leben vor Sehnsucht vergeht, das ist einer der Momente des Aufwachens, die
einem dieses Buch bescheren.
Wenn man jüdisch ist und aus Wolgograd stammt, oder Moskau,
dann verlässt man seine Heimat, um nicht weiter diskriminiert zu werden,
herabgewürdigt, schickaniert. Als Jude kann man das eventuell schaffen, wegen
der Kontingente, die einem die nicht-jüdischen Russen auf brutalste Weise
neiden. Manche, auch Antisemiten, kaufen sich einen jüdischen Vorfahren in den
Stammbaum, um ebenfalls ins Kontingent zu kommen.
Es geht nicht um Glück, sondern um Hoffnung.
„… aber Hoffnung ist ja nichts, was da ist, um erfüllt zu
werden, sie erfüllt einen umsonst und kostet einen, so viel sie eben kostet.“
Die Hoffnung zum Beispiel, dass die eigenen Kinder es einmal
besser haben werden. Wo man schon selbst kein Leben in dem Sinne, wie man es
sich vielleicht als junge Frau vorgestellt hatte, wie es auch aufgrund der
eigenen Fähigkeiten möglich gewesen wäre, erleben durfte, sollen sie vielleicht so etwas wie Selbstverwirklichung erleben. Selbstverwirklichung, diese Selbstverständlichkeit für mich ist ein Luxusgut, für die meisten Menschen sogar ein unbegreifliches Konzept.
Selten habe ich in einem Buch ein derart eindringliches
Porträt einer Mutter gefunden. Eine hochintelligente, einstmals wunderschöne
Frau, die aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge und Umstände vollkommen
verformt ist. Ausser sich. Ich musste an all die Millionen Frauen denken, die dieses Schicksal teilen. Geschreddert im Mahlwerk der Familien weltweit.
Zeigt mir doch jemanden, der wirklich in sich ist! Ausser sich zu sein ist im Grunde eine Art Normalität. Oder? Insofern ist das Buch ein Sprachrohr für so viele, die ich kenne.
Ausser sich sind in dem Buch eigentlich viele der
Protagonisten, nicht nur die Geschwister Ali und Anton, sondern auch die
Eltern, und im Grunde die ganze Reihe der Vorfahren. Geworfen in eine Geschichte
zwischen Holocaust und Stalin, wie sollte man da nicht komplett ausser sich
geraten, wenn man denn überlebt hat. Durch Zufall passte dieses Buch also auch
sehr gut zu meiner vorherigen Lektüre, Untertauchen von Lydia Tschukowskaja.
Stalin und der Gulag sind in jeder russischen Geschichte am
Horizont. Nur wird dort nicht so offen mit Geschichte umgegangen, wie in
Deutschland. (Die Russischlehrerin meiner Tochter findet, dass Putin ein toller Mensch ist, zum Beispiel) Diejenigen, die es eine Schande finden, offen mit Geschichte und der Schuld daraus umzugehen, sind eben bereits in vielen Ländern schon lange oder immer noch in
der Überzahl. Welches Privileg, in Berlin offen durch die Geschichte und all
die Gefühle, die sie für jeden bedeuten, hindurchgehen zu dürfen. Wie lange noch
wird dies hier möglich sein?
Ali und Anton verlassen mit den Eltern und einem Großvater
Moskau und ziehen in Deutschland mehrfach um, Asylbewerberheime, Schulen, in
denen sie gemobbt werden.
Sie sind sich ihrer selbst, aber auch ihrer
Geschlechterrollen niemals sicher und finden Halt im ehesten aneinander. Die
Eltern überfordert. Der Vater lernt niemals richtig Deutsch, die Mutter
verdient das Geld als Ärztin. Aber vorher muss sie natürlich zusätzliche
Prüfungen absolvieren.
Irgendwann trennen sich die Eltern.
Der Vater stürzt betrunken von einem Balkon.
Anton geht einfach weg. Eine Postkarte aus Istanbul weist
der Mutter und Ali die Spur. Ali macht sich auf den Weg, ihren Bruder zu
suchen. Wochenlang irrt sie durch die Straßen und Clubs der Stadt am Bosporus.
Beim Lesen verliebt man sich regelrecht in diese Stadt.
Irgendwann lernt sie Katho kennen. Eine Liebesaffäre
beginnt. Katho besorgt ihr Testosteron und Ali wird zu Anton. Ein Roman, in dem
auch die Geschlechterrollen keinerlei Definition mehr enthalten, sondern offen sind
in alle Richtungen. Das ist so wohltuend, und auch schmerzhaft. Das Buch führt einen an so vielen Stellen in die Angst. Es beginnen die Proteste im Gezi Park und Ali weiß im
Grunde nicht mehr, wer sie ist oder wohin sie gehört.
Dieses Buch hat mir außerordentlich gut gefallen und für mich ist es ein Buch dieser Zeit, so genau, so mutig beschreibt es den Zustand eines Jetzt. Es hat mir
Welten geschenkt. Dafür danke ich der Autorin. Und Jessica Ebert von ebertundweber, die mir das Buch so ein bisschen gegen meinen Willen :-) geliehen hat.
(c) Susanne Becker
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