Die Schriftstellerin Nina Sergejewna fährt für vier Wochen
aufs Land, in eine Art Schriftstellerkolonie, um in Ruhe, weit weg vom Alltag, schreiben zu können.
Dort trifft sie unter anderem den Schriftsteller Bilibin und
den Lyriker Weksler, einen Juden.
Nach und nach erfährt man, dass Nina Sergejewnas Mann vor
ein paar Jahren mitten in der Nacht abgeholt worden ist und sie kurz darauf die
Nachricht erhalten hatte, dass er zu zehn Jahren Lager mit Kontaktverbot
verurteilt worden ist. Nie wieder hat sie von ihm gehört. Sie lebt allein mit der Tochter in einer Wohnung mit im Grunde Fremden. So war es. Eine große Wohnung musste man teilen.
Wie die anderen Schwestern, Frauen, Mütter, deren Brüder,
Männer, Söhne im Zuge von Stalins Säuberungen spurlos verschwunden sind, und vollkommen grundlos, willkürlich, stand sie schon im Morgengrauen vor dem Gefängnis an, frierend,
stundenlang, um irgendwann, wie alle anderen Frauen, die Auskunft zu erhalten,
dass der Fall ihres Mannes noch nicht bearbeitet sei. Die Beschreibung dieser Szene ist so besonders eindrücklich, weil sie die Sinnlosigkeit deutlich macht, mit welcher in einer Diktatur Menschlichkeit zerstört wird durch all diese kleinen Gemeinheiten, die die Kräfte der Menschen vollkommen aufzehren. Bis von ihnen nur noch eine erschöpfte Hülle bleibt.
Bei einem Spaziergang erfährt sie, dass Bilibin aus einem
solchen Lager, in das ihr Mann angeblich geschickt wurde, zurückgekehrt ist. Er hat jahrelang untertage gearbeitet, unter entsetzlichen Bedingungen. Praktisch ist es ein Wunder, dass er überlebt hat. Die Angst, jemals noch einmal so etwas zu erleben, wird ihn nie wieder verlassen können.
Geradezu hungrig sucht sie den Kontakt zu ihm, um über seine
Geschichte mehr zu begreifen von dem, was möglicherweise ihrem Mann widerfahren
sein könnte. Tatsächlich entwickelt sich zwischen ihnen eine sehr zarte, eine schöne und traurige Liebesgeschichte. Denn, wo soll die Liebe auch blühen in einer Eiszeit, wie sie das stalinistische Regime über Russland ausbreitete? Nicht zufällig spielt der Roman im Winter. Liebe braucht Freiheit, Güte, einen Raum des absoluten Vertrauens. Wo jedes Wort zur Waffe gegen einen werden kann, da kann kein Vertrauen entstehen. Dem Buch voran steht bedeutungsvoll das Zitat Tolstois: "Die Moralität des Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort."
Das Buch Untertauchen der Russin Lydia Tschukowskaja ist ein
Meisterwerk, sprachlich und inhaltlich. Subtil erzählt sie die Geschichte der Schriftstellerin, die sehr
autobiografisch ist, denn auch Tschukowskajas Mann, der Physiker Matwej
Bronstein, war eines Nachts geholt worden und ist nie wieder zurückgekehrt.
Untertauchen, 2015 bei Dörlemann erschienen, leuchtet die
Innenräume einer brutalen Diktatur aus, die Angst der Menschen, die
Unmöglichkeit, ein normales Leben, wie wir es kennen, zu führen. Jedes Wort
könnte einen verraten, nein: nicht könnte! Es verrät. Die Menschen verraten einander und niemand traut niemandem und jene, die bislang verschont sind, fühlen sich in ihrer Kleingeistigkeit noch jenen überlegen, die bereits geholt wurden, solange, bis es sie selbst trifft. Ja, das ist der Geist der Diktatur, wie wir ihn die ganze Zeit irgendwo erleben. Jetzt zum Beispiel in der Türkei, in Russland, und natürlich in den USA, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir fühlen uns überlegen, weil wir nicht in einem solchen Land leben müssen. Weil wir frei sind. Ist es nicht so?
Bilibin schreibt während des Aufenthalts auf dem Land seinen
Roman über das Lagerleben zuende. Als Sergejewna ihn liest, ist sie zutiefst enttäuscht. Weil er für ihr Empfinden kein wahres Wort enthält. Erst ein paar
Tage später versteht sie, dass die Angst, er könne für ein falsches Wort zurück
ins Lager geschickt werden, wie ein innerer Zensor funktioniert und dies nicht wirklich verwerflich, sondern absolut menschlich ist.
Das Buch zeigt deutlich, wie die Angst vor dem unvorhergesehen
Entsetzlichen, das ständig allen um einen herum geschieht und einem selbst
jederzeit, vorzugsweise mitten in der Nacht ( und ja, bei der Lektüre dieses Buches ist es mir erst wirklich bewusst geworden, wie alle Dikaturen ihre Opfer nachts holen, und wie sehr dies schon an sich ein Verbrechen ist. Deutschland holt übrigens auch, und es ist keine Dikatur, die abgewiesenen Asylbewerber nachts und fährt sie zum Flughhafen. Nachts ist man so verletzlich, da ist es so viel schwieriger, Widerstand zu leiste und die anderen liegen in ihren Betten und sehen nichts!), widerfahren kann, die Menschen
auch innerlich zum verstummen bringt. Sie hören ihre eigene Stimme nicht mehr,
weil deren Wahrheit sie in absolute Gefahr bringen würde.
An der Person der Leiterin der Kolonie, Lyudmilla Pawlowna,
zeigt die Autorin psychologisch fein und korrekt, wie die Anpassung an die
kriminellen Maßstäbe eines faschistoiden Regimes auch dann funktioniert, wenn man
persönlich betroffen ist, weil, zum Beispiel, die eigene Schwester geholt wird.
Auch die Charaktere der angepassten Mitläufer werden
großartig gezeichnet in Form anderer Schriftsteller, die die neuesten,
antisemitischen Erlasse der Regierung unhinterfragt gutheißen.
Und dann ist da noch Weksler, der jüdische Lyriker, der in
einem jüdischen Verlag publiziert wird. Er fasst Vertrauen in Nina Sergejewna,
und liest ihr seine Gedichte und die Übersetzungen ins Russische vor. Er fühlt
sich von ihr verstanden. Währenddessen wird die antisemitische Propaganda immer
extremer und die Autorin zeigt, wie durch falsche Meldungen, manipulative Fake
News, das Verleugnen von Logik und Tatsachen in Nullkommanichts eine Stimmung
in einem Land gestärkt werden kann, die dazu führt, dass alle im höchsten Fall
erleichtert sind, dass nicht sie es sind, die geholt werden, als man Weksler
eines Nachts aus dem Sanatorium abholt.
Dieses Buch hat mich so viel begreifen lassen, dass ich es
nur schwer in Worte fassen kann. Erschreckend in seiner Aktualität, in der ja
wieder Sündenböcke fabriziert werden durch Worte wie „Asyltourismus“, „illegale
Einwanderer“ und ähnliches. Das Buch zeigt, wie leicht Menschen manipulierbar
sind, und wie sehr die Angst sie zu formbaren Puppen macht. Es zeigt, wie durch Worte die Grenzen dessen weiter gesteckt werden, wogegen Menschen nicht aufbegehren. Die Machthaber testen die Grenzen zuerst mit Worten, dann mit kleinen Taten, dann mit immer größeren, grausameren Taten aus. Wenn sie sicher sein können, dass auch bei den bestialischsten Dingen der Widerstand überschaubar bleiben wird, dann ist das System schon lange nicht mehr freiheitlich. Wie weit sind wir noch davon entfernt?
Es hat mir aber auch gezeigt, wie stark selbst unter solchen
Umständen ein Mensch sein kann.
Im Anhang findet sich unter anderem die Rede der Autorin,
die sie aus Anlass ihres Ausschlusses aus dem Sowjetischen
Schriftstellerverband im Januar 1974 gehalten hat. Allein für diese Rede lohnt sich dieses Buch. Denn sie zeigt ein Rolemodel auf, wie ich es mir gerade für alle wünsche, vor allem für mich und meine Töchter und ihre Freunde. Resist. Always! Beginnt, den Worten zu widerstehen, die die Grenzen Eurer Realität und Wahrnehmung verschieben.
Übersetzt wurde das Buch übrigens von der genialen Swetlana Geier.
Es gibt von Lydia Tschukowskaja noch andere Bücher,
Nachdenken über Anna Achmatowa zum Beispiel, also über eine andere große
russische Autorin, die der Tschukowskaja heimlich ihre Gedichte rezitierte, welche diese dann auswendig lernte, damit sie nicht verloren gingen.
Und es gibt Sofia Petrowna. Beide sind leider vergriffen und
ich hoffe, dass es bald einen Verlag geben wird, der sie beide wieder auflegt.
Der Erfolg von Untertauchen und die Notwendigkeit, solche freien und starken
Denkerinnen heute, gerade jetzt und hier und heute, lesen zu können, sollte ein großer Anreiz sein.
(c) Susanne Becker
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