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Buch der Woche - Fegefeuer von Sofi Oksanen


"Aliide zog die Gardinen zurecht. Der regnerische Hof schniefte grau, die Zweige der Hofbirken zitterten nass, die Blätter platt vom Regen, die Gräser schwankten, und von den Spitzen fielen Tropfen herab. Und da unter ihnen war etwas. Irgendein Bündel. Aliide zog sich hinter die Gardine zurück. Wieder spähte sie hinaus, zog die Spitzengardine vor sich, um vom Hof aus nicht gesehen zu werden, und hielt den Atem an."

Jetzt hat es mich doch ergriffen, dieses Buch der Finnin Sofi Oksanen, Fegefeuer.

Das Fegefeuer ist der Ort der Läuterung für jene Seelen, die noch nicht heilig sind, also nicht gleich in den Himmel dürfen. Tröstlich am Fegefeuer ist, dass die, die hinein kommen, nach ihrer Läuterung sicher in den Himmel aufsteigen werden. Also eine sehr schmerzhafte, verwandelnde Katharsis. Aber sind Verwandlungen nicht immer schmerzhaft? 

Ich habe es schon so lange im Regal liegen, dass ich es nur aus einer Art Pflichtgefühl heraus in die Hand nahm. So viel gutes hatte ich vor einigen Jahren darüber gehört und so konsequent hatte ich es ignoriert. Aber dann las ich die ersten Seiten und sie berührten mich, stark, unangenehm auch. Sie lösten Gefühle in mir aus, die ich nicht unbedingt haben möchte. Gefühle, die Geschichten über Gewalt, welche Frauen angetan wird, immer in mir auslösen. Wenn das Buch eine Axt sein soll, um das Gefrorene in Dir aufzubrechen, dann gelingt dies Sofi Oksanen mit ihrem Roman, der in Estland, in Russland und in Berlin spielt, meiner Meinung nach sehr gut und mich würden Leseerfahrungen anderer Frauen hier sehr interessieren.

Das Buch ist so wunderbar geschrieben, die beiden Frauen Zara und Aliide sind so starke, wenn auch oft spröde, nicht uneingeschränkt liebenswerte Charaktere, dass ich immer wieder, trotz der unangenehmen Gefühle, zu ihnen zurückkehren muss. Ich möchte wissen, wie die Geschichte weiter geht. Stelle Seite für Seite fest, wie unglaublich komplex die Fäden sind, wie weit sie reichen, und dass sie einen Bogen spannen von 1936 bis 1992. Das Buch ist spannend und in ihm lodern zwischen den Zeilen so viele Geheimnisse, die man alle lüften möchte. Auf diese Weise entwickelt es einen regelrechten Sog.

Wenn die Gesellschaften sich umwälzen, dann sind die Frauen regelmäßig die Geopferten. Es ist so leicht, eine Frau mit Gewalt zu einem Opfer zu machen und vollkommen zu demütigen. Das wissen alle Frauen, selbst wenn sie es nicht am eigenen Leib erlebt haben. Es ist wie eine genetische Überlieferung, die wir bereits mit der Geburt in uns tragen. Bei der Lektüre wird mir einmal wieder bewusst, wie sehr ich diese Überlieferung weg schiebe, um nicht im normalen Leben davon behelligt zu werden, die Gewalt, die tagtäglich Frauen und Mädchen angetan wird. Auch jetzt gerade. 

Aliide Truu schaut eines Abends durch die Gardine ihres Küchenfensters und sieht ein Bündel an ihrem Garten liegen, welches sich als die junge Frau Zara entpuppt. Aliide nimmt sie widerwillig und misstrauisch auf. Hält sie sie doch für den Lockvogel einer Diebesbande. Schnell wird klar, dass die beiden, obwohl sie sich wie zufällig begegnen, durch eine gemeinsame Erfahrung, Geschichte, Gewalt, miteinander tief verbunden sind und einander an der Signatur ihrer Verletzungen wortlos erkennen. Vertraut. Möglicherweise verwandt? Estland, Russland, Länder als Spielball der Geschichte, die Menschen darin Kollateralschaden. Wenn die äußeren Umstände einen entmenschlichen, was tut man dann? Was geschieht mit einem? Wozu ist man fähig?

Auslöser für das Schreiben des Buches, so berichtet Sofi Oksanen in einem Interview, war unter anderem die Lektüre von Als gäbe es mich nicht der kroatischen Autorin Slavenka Drakulic.
Sofi Oksanen hat es gelesen und begann zu recherchieren, weil sie die Frage, wie so etwas, also die Vergewaltigungslager der Serben, mitten in Europa heute geschehen konnte, nicht los ließ. 
Sie fand unter anderem heraus, dass alle Opfer von Vergewaltigung, egal welcher Nationalität sie angehören, gleich reagieren: sie können anderen Menschen nicht mehr in die Augen schauen. Sie schauen nicht hin, weil sie selbst nicht gesehen werden möchten.
Diese Eigenart, die Augen niederzuschlagen, eigentlich nicht sehen zu wollen, die ständige Angst, gesehen zu werden, sind emotionale Grundelemente der Geschichte, die hinter den ständig abgewandten Blicken Form annimmt.

Ich bin froh, dass ich es doch noch entdeckt habe. Ein ganz großartiges Buch über Geschichte, Frauen, Gewalt.
Ein Buch, das Estland auf die Landkarte der wahrgenommenen, europäischen Literatur katapultiert hat. 

Es ist bereits 2010 bei Kiepenheuer und Witsch erschienen. Es wurde in mehr als 25 Sprachen übersetzt und war weltweit ein riesiger Erfolg.
Mir liegt eine Pocket Taschenbuchausgabe des btb Verlags vor.

(c) Susanne Becker


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