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Buch der Woche - Im Winter von Karl Ove Knausgård


„2. Dezember. Den ganzen Sommer und ganzen Herbst hast du in ihrem Bauch gelegen. Umgeben von Wasser und Dunkelheit bist du durch die verschiedenen Entwicklungsphasen des Fötus gewachsen, die von außen der Evolution unserer menschlichen Art gleichen, ….“

Diese erste Satz des Buches „Im Winter“ von Karl Ove Knausgård enthält schon so viel von all dem, was im Grunde alle seine Bücher ausmachen.
In fast lockerem Plauderton, ich nenne es privat für mich auch oft „Gelaber“, aber in einem freundlichen Sinn, erzählt er der Leserin privates und verknüpft es auf der Stelle mit einer Öffnung hin zu philosophischen Erkenntnissen, die uns noch auf der ersten Seite zum Thema "Regenjacken" führen werden "eine Art Haut, die wir anziehen". 
Beides durchdringt sich bei ihm beständig: das private und das Allgemeingültige, die Verbindung zu einem Lebensganzen, die er zu finden versucht. Diese Suche hat oft einen leicht verzweifelten Unterton, als wolle er durch möglichst viele Worte die Sinnlosigkeit der Existenz in eine Struktur zwingen, die wider besseres Wissen Bestand hat.
Vielleicht macht das Knausgårds Wörtermeer und seine Faszination für so viele Leser aus: die Verzweiflung, mit der er durch die Worte die gewaltige Übermacht dieser Existenz, in der wir alle treiben, zu zähmen sucht. 

Im Winter ist einer von vier Bänden, den Jahreszeiten-Bänden, die er für sein viertes Kind während der Schwangerschaft geschrieben hat. So bekommt der Versuch, die Existenz verbal zu bändigen, einen äußeren Rahmen: er schreibt alles für dieses Kind, dem er die Welt, in die es bald eintreten wird, erklären möchte. 

Wieder reichen die Themen vom Familienleben, oft kommen die drei Geschwister der kleinen Anne in den Miniaturen vor, über die Natur, die gerade in diesem Winter Band eine sehr große Rolle spielt: Schnee, Eis, die Kälte, die abweisende Qualität des Winters, die Ruhe, die Zurückgezogenheit, bis hin zu Alltagsgegenständen: Zahnbürste, Q-Tips. In diesem Band befinden sich auch einige Kurzporträts von Menschen, die Knausgård näher kennt.
Es ist ein typisches Knausgård Buch, illustriert mit wunderschönen Bildern von Lars Lerin, einem schwedischen Maler. Es ist typisch in dem Sinne, dass es Infantilität mit genialen Erkenntnissen zu paaren weiß, so dass es auf mich, wie alle Knausgård Bücher bis auf Lieben (ein Buch, in dem ich regelrecht versunken bin, weil es mir so gut gefiel und ich darin so viel vertrautes fand), den Effekt hat, dass ich zwischen totalem Genervtsein ob dieser unschlagbaren männlichen Egomanie und Eingesogenwerden seiner oft ans Geniale grenzenden Laberei hin- und hergerissen bin. Manchmal nicke ich beim Lesen ein, ein andermal springe ich zu meinem Bücherregal und blättere herum, um die von ihm angeregten Themen für mich alleine zu vertiefen.

„Darüber hinaus verstehe ich, dass die neue virtuelle Welt, mit der unsere Kinder aufwachsen, gerade deshalb so immense Abhängigkeiten erzeugt, weil sie das Bedürfnis nach Antwort und Reaktion stillt und weil sie es unmittelbar tut. Auf diese Weise dringt das Virtuelle in den Kern der menschlichen Kontakte vor und schenkt uns alle Belohnungen der Geselligkeit, ohne dass wir den Preis für sie zahlen müssen, so dass wir heute ganz allein dasitzen können, auf unserer eigenen Insel, ohne dass diese mechanische Interaktion jemals das Bedürfnis nach anderen Menschen in unserem Inneren entfachen und hin und her hetzen lassen muss wie ein gerade gefangenes Tier in einem Käfig.“

Manchmal erinnern mich seine Bücher an die Abende in Langenfeld, wenn wir in dem Dachgeschosszimmer meines Freundes Lothar saßen, kifften, Kölsch tranken und so derart endlose Gespräche bis ins Morgengrauen führten. Auch diese reichten von der Analyse des Geschmacks roter versus grüner Gummibärchen bis hin zu Interpretationen der Bücher Friedrich Nietzsches oder Camus', meist sanft untermalt von der Musik der Doors.

Ja, vielleicht mag ich Knausgards Bücher deshalb so, weil sie ein bisschen sind wie diese Abende und wie die Gespräche mit meinem alten Freund.💜

Hier noch einmal meine Rezension zu  Im Herbst.

Herzlich danke ich dem Luchterhand Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars. 

(c) Susanne Becker

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