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Lucy Fricke, Töchter

Natürlich habe ich ein Faible für lange, sehr lange, komplizierte, sehr komplizierte Bücher.
Gerade noch schwelgte ich am Weltenrand des Österreichers Philipp Weiss herum, da flog mir zu Weihnachten Töchter ins Haus. Geschrieben ist es von Lucy Fricke, die, wenn ich mich nicht sehr täusche, bei mir um die Ecke wohnt. Jedenfalls beschreibt sie meinen Kiez mit präziser Kenntnis der Sachlage und berichtet sogar von Bizim Kiez, unserem Kampf für den Türkischen Gemüseladen und ja, ich kann mich erinnern, sie dort ein paar Mal gesehen zu haben. Es muss in einem Roadmovie nicht ständig etwas passieren, aber es macht Spaß, wenn es doch so ist. Dies ist ein normales Buch, nicht zu lang, nicht zu kompliziert. Eine spannend und schnell erzählte Geschichte, ein Pageturner der besten Sorte: voller Tiefe und voller Witz.


Es geht um zwei Frauen, die ihren Vätern, bzw. Ersatzvätern, nachspüren und sich gleichzeitig von ihnen verabschieden müssen. Es geht nebenbei natürlich auch um die Mütter und Selbstfindung. Beide Frauen sind zwar über 40, aber es scheint, dieser Prozess dauert immer länger und möglicherweise ist er unser Leben. Früher dachte man einfach nur, dass man sich selbst findet und danach lebt, und dass das so mit Anfang 20 eingetütet ist. Dass man also erwachsen (was immer das bedeutet) lebt. Heute ist es eher so, dass man sein Leben lang immer weiter die Puzzlesteine zusammen klaubt, die einen ausmachen. Auch davon handelt das Buch, wie schwer es ist, erwachsen zu sein und was das grundeigentlich bedeutet. Es geht um die unbefriedigten Sehnsüchte, die vermutlich jeder von uns aus der Kindheit ins Erwachsenenleben schleift und für die man immer die Eltern verantwortlich macht. Vielleicht zu Recht. Seitdem ich Mutter bin, sehe ich es differenzierter. Zwinkersmiley.

Martha möchte ihren Vater Kurt in die Schweiz bringen, wo dieser bereits einen Platz in einer Suizidklinik hat. Sie bittet Betty, die Kreuzberger Schriftstellerin, sie zu fahren, denn nach einem Unfall traut sie sich eine solche Strecke nicht zu und sowieso teilen die beiden eine Art von Freundschaft, die ich extrem schön fand.
Ein Roadtrip also, enthält dieses Buch für mich alles, was ich von einem guten Roadtrip erwarte: coole Orte, interessante Charaktere, Abenteuer, unerwartete Wendungen, Tempo und eine Mischung aus extrem tiefen Gedanken und unverschämt lautem Lachen.
In der Schweiz gelandet, kommt heraus, dass der Vater eigentlich etwas anderes möchte, nämlich eine alte Liebe wiedersehen. Diese lebt nunmal in Italien, also geht der Roadtrip weiter und führt uns und die Charaktere schlussendlich bis auf eine griechische Insel.
Eigentlich hatte ich während der Lektüre ständig Lust, mich in ein Auto zu setzen und loszufahren.
Ein wunderbar kurzweiliges Buch, eine perfekte Lektüre für zwischen den Jahren oder im Urlaub. Ein Buch für Freundinnen und Töchter, aber auch Mütter.
Das Buch war von Seite 1 bis Seite 237 ein Genuss, den ich an einem Tag verschlungen habe wie ein leckeres Rieseneis, oder, besserer Vergleich: wie einen Roadtrip mit einer besten Freundin. Es sollte übrigens dringend verfilmt werden!

(c) Susanne Becker


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