"Als ich sieben Jahre alt war, wohnten wir in einem grünen
Haus. Ein Nachbar von uns, ein tüchtiger Schneider, schlug oft seine Frau. Abend für Abend hörten wir das Geschrei, das Schluchzen, die Flüche. Am nächsten Morgen machten wir weiter im alten Trott. Alle Nachbarn taten, als hätten sie nichts gehört und nichts gesehen.
Dieser Roman ist denen gewidmet, die hören und sehen."
Dies steht zu Beginn des Romans "Ehre", als Widmung sozusagen und zumindest mir ging es so, dass ich von dieser Widmung sofort derart berührt wurde, dass ich das Buch für die nächsten vier Tage nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ich hatte während der Lektüre oft einen Kloß im Hals, weil es ja klar war, dass jemand ermordet werden würde. Eigentlich wollte ich gar nicht wissen, dass es geschieht. Aber dennoch, obwohl es geschieht, schafft die Autorin es, die Leserin mit einem guten Gefühl aus dieser wirklich tragischen Geschichte zu entlassen. Die Geschichte wird auf wunderbare Weise aufgelöst, womit die Magie der Elif Shafak für mich sogleich bewiesen war. Ein weiterer Beweis dafür ist die Fähigkeit der Autorin, ihre Protagonisten nicht zu verurteilen, sondern ganz offen eine Geschichte zu erzählen, die selbstverständlich, wie in einer Art Reflex, bei mir sofort grob geschätzt tausend (Vor-)Urteile in Gang gesetzt hat. Ich meine, hallo, wie kann ein Typ, der seine Mutter umbringt, überhaupt noch mit Respekt betrachtet werden? Aber natürlich gibt es für alle Dilemmas unserer Welt immer nur diesen einen Weg: mit größtmöglicher Offenheit und Respekt die Geschichten aller daran beteiligten Menschen zu betrachten. ("Dieser Roman ist denen gewidmet, die hören und sehen.") Das gelingt ihr, und als Leserin bin ich ihr ab etwa Seite drei dabei blind und willig gefolgt.
Pembe zieht mit ihrem Ehemann Adem und den beiden Kindern Esma und Iskender, von ihr häufig Sultan genannt, von Istanbul nach London, wo noch der kleine Yunus geboren wird. Aber die Familie zerbricht an den Anforderungen einer anderen Kultur, an der mangelnden Liebe zwischen den Eltern, an den Zwängen der Herkunftskultur. Adem verlässt seine Frau für eine russische Nachtclubtänzerin und verspielt sein ganzes Geld beim Glückspiel. Die Kinder, selbst der achtjährige Yunus, beginnen immer mehr, eigene Wege zu gehen und an einem normalen Nachmittag in einer Bäckerei, als sie Opfer einer fremdenfeindlichen Beleidigung, beinahe eines Übergriffs, wird, lernt Pembe Elias kennen, der ihr beisteht. Er liebt wie sie das Kochen und die beiden beginnen, sich heimlich zu treffen in einem Kino in einem abgelegenen Teil der Stadt. Es geschieht nichts weiter, als dass sie heimlich Filme miteinander sehen, Händchen halten, sich unglaublich gut verstehen. Beim Lesen freute es mich so unbändig für Pembe, dass da endlich jemand war, der sie sah und es gut mit ihr meinte. Als der Bruder Adems sie zufällig mit diesem anderen Mann entdeckt, beginnt er, seinen Neffen von der Sündhaftigkeit seiner Mutter zu überzeugen, davon, dass sie Schande über die ganze Familie bringen wird, und dass er ,als nunmehr Familienoberhaupt, etwas dagegen unternehmen muss.
Währenddessen lebt in einem abgelegenen Dorf in Kurdistan Pembes eineiige Zwillingsschwester Jamila ein naturverbundenes, hartes und einsames Leben als Hebamme. Die beiden Schwestern schreiben sich regelmäßig. Als Jamila liest, dass Pembe einen anderen Mann kennen gelernt hat, dämmert in ihr die Ahnung auf, dass etwas Furchtbares geschehen könnte und sie macht sich auf den Weg nach London.
"Meine Mutter starb zwei Mal. Ich habe mir geschworen, ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen." Erzählt wird die ganze Geschichte von Esma, und zwar zu dem Zeitpunkt, als der Bruder, der Mörder, die Strafe für sein Verbrechen so gut wie abgesessen hat, kurz bevor sie ihn aus dem Gefängnis abholen und zu sich holen wird. "Ich werde ihn dort allein lassen. In einem Zimmer in meinem Haus. Nicht zu nah und nicht zu fern. In diese vier Wände werde ich ihn einsperren, zwischen dem Haus und der Liebe, die ich empfinde, ob ich will oder nicht, und die für immer in einem Kästchen in meinem Herzen verschlossen sind. Er ist mein Bruder. Er, der Mörder."
Ehre ist die Geschichte einer Familie, erzählt über drei Generationen.
Es ist die Geschichte eines Mordes um der Ehre willen.
Es ist die Geschichte einer Auswanderung von der Türkei nach London.
Es ist die Geschichte darüber, dass Frauen keine Ehre haben, sondern Scham, und dass sie Schande über die Familie bringen können, während Männer Ehre haben und eine Menge tun können, ohne den Verlust derselben auch nur ansatzweise herauszufordern. Sie werden von ihren Müttern wie Prinzen oder Sultane behandelt und entwickeln ein Selbstbild und ein Gefühl für die eigenen Rechte, das mit der Realität, wie ich sie wahrnehme, wenige Schnittmengen enthält, wenn überhaupt welche. Diese männliche Rollenerfüllung kreiert eine Parallelwelt, in der das, was ich bislang unter Gleichberechtigung verstand, keine Gültigkeit besitzt. Es entstehen Rollen für Frauen, die so eng gesponnen sind, dass ich, geschult in einer westlichen Welt, schon beim Lesen darüber glaube, seitenlang zu ersticken. Und doch weiß ich, ich, Mutter zweier Töchter, dass die meisten Frauen dieser Welt in einem Gewebe existieren, dass so eng oder noch viel enger ist. Es ist ein Gewebe, so kleinmaschig und bedrohlich, sie können darin entführt und als Kinderbräute verkauft werden, weil sie eine Schule besuchen wollen und kein Mensch kann oder will ihnen helfen.
Ehre ist auch eine vielschichtige Liebesgeschichte, in der es heimliche Liebe, Mutterliebe, Vaterliebe und Geschwisterliebe, unerfüllte Liebe und liebestolle Sehnsucht, Teenagerliebe und die schwärmerische Liebe eines Kindes für eine Häuser besetzende Punkerin gibt.
Die Schauplätze wechseln zwischen Kurdistan, Istanbul, London und einem Gefängnis in England. Elif Shafak erzählt die Geschichte meisterhaft aus den verschiedenen Perspektiven der Protagonisten: das Opfer, deren Schwester, deren Tochter, der jüngere Sohn, der Täter, der Ehemann, alle kommen sie zu Wort, alle Geschichten werden erzählt und ergeben so ein wunderbar angeordnetes Puzzle, welches unglaubliche Wahrheiten enthält. Ich las in einer Rezension, dass jemand dieses Puzzle verwirrend fand. Ich muss sagen, dass es mir nicht eine Sekunde so erging. Die Geschichte wird so gut und klar erzählt, dass ich in der Vielzahl der Perspektiven nicht ein einziges Mal verloren ging. Elif Shafak scheut sich nicht, auch spirituelle Bereiche zu berühren und tut dies so selbstverständlich, wie ich es selten in einem Roman vorgefunden habe (vielleicht bei Isabel Allende, mit der sie auch schon andernorts verglichen wurde). Ich habe die Teile, die in Kurdistan spielten, in welchen Jamila die Hauptrolle einnahm, besonders gemocht. Sie enthalten so viel Magie.
Ich habe dieses Buch wirklich geliebt und in mich hinein gesogen wie eine Süchtige. Ich habe mir bereits vorgenommen, sobald wie möglich Die vierzig Geheimnisse der Liebe zu lesen, weil ich Elif Shafak so vollkommen für mich entdeckt und gewonnen habe, dass ich im Grunde am liebsten hintereinander weg alle ihre Bücher lesen möchte. Als schreibende Mutter werde ich mir sicher auch Black Milk: On Writing, Motherhood, and the Harem within anschauen. Sie ist die erste türkische Autorin, die ich lese. Sie hat mir, wie ich dies vielleicht nur bei Chimamanda Ngozi Adichie bislang in ähnlicher Intensität erlebt habe, die Augen und das Herz geöffnet für eine völlig andere Welt, die mir bislang hauptsächlich klischeehaft bekannt war, die ich nur vom Hörensagen kannte, obwohl ich mitten in Kreuzberg lebe, das manche, und nicht zu Unrecht, Klein-Istanbul nennen. Ich habe so wenig wahrgenommen von meiner Umgebung, dass ich mich dafür ein wenig schäme. "Dieser Roman ist denen gewidmet, die hören und sehen."
Meine Lieblingsbuchhändlerin, die auch meine Freundin ist, ihr kennt sie von ihren Buchtipps hier bei mir, war in der Türkei (und nur am Rande sei erwähnt, dass ich dort in diesem Jahr auch zum ersten Mal hinreisen werde, ähem, in ein Haus, das meine Lieblingsbuchhändlerin mir empfohlen hat, aber das tut jetzt wirklich hier gar nichts zur Sache) und sagte, dass dort im Supermarkt Bücher von Elif Shafak stapelweise neben der Kasse liegen. Das hat mich beinahe gewundert, weil es ja keine leichte Literatur ist, Krimi, Liebesroman oder so. Das ist, als läge hier bei Netto ein Stapel Bücher von Svenja Leiber oder Terézia Mora neben der Kasse (was ich persönlich sofort unterstützen würde!). Irgendwie aber ist es doch unvorstellbar, oder?
Ich werde also hinfahren und gegebenenfalls ein verifizierendes Foto hier posten!
© Susanne Becker
Kommentare
Kommentar veröffentlichen