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Esther Kinsky, Hain Geländeroman

"... eine Ballung der Vorläufigkeiten, wie sie sich oft, als gebe es ein physikalisches Gesetz dafür, beschützend um Kerne bilden, deren Schutzbedürftigkeit niemandem aufgefallen ist."

Esther Kinskys Geländeroman "Hain", für welchen sie vor kurzem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, führt uns durch Gelände, hauptsächlich in Italien, sowie im menschlichen Inneren, durch welche die Ich-Erzählerin schutzlos in ihrer Trauer, mühsam sich bewegt. Gelände sind es, die möchte man nicht so sehnsüchtig betreten, wie es bei dem Wort Italien ganz kurz scheinen könnte. Allerdings wird das Gelände, durch das uns Esther Kinsky führt, für kaum jemanden vermeidbar sein.
Das innere Land der Trauer um den Lebensgefährten, der nicht lange vor der ersten im Buch beschriebenen Italienreise verstorben ist. Aber auch die Trauer um den Vater, der schon länger tot ist, und mit dem die Familie jahrelang jeden Urlaub in Italien verbracht hat, wo er sie durch Sehenswürdigkeiten voller Morbidität führte (z.B. Totenstädte). Im zweiten Teil des Buches schildert Kinsky vor allem die Erinnerungen an diese Reisen der Vergangenheit und es will einem scheinen, als trauere sie auch ein Stückweit um Dinge, die ihre Kindheit ausmachten. Man ahnt einen Schatten über dieser Familie, in der sie Kind war und die jeden Sommer durch Italien reiste. Man ahnt, dass der Tod des Lebensgefährten auch eine alte Trauer reaktiviert hat.

In Esther Kinskys Italien ist es eigentlich fast immer grau und es regnet so oft, wie ich es aus meiner Heimat, dem Rheinland, kenne. Interessanterweise stammt die Autorin ebenfalls aus dem Rheinland. Während der Lektüre fragte ich mich an manchen Stellen fast zwanghaft, ob diese Linse der tiefhängenden, irgendwie tristen Rheinlandwolken von der Kinsky im Erinnern über Italien gestülpt wurden. Ob das Schauen, das ja von innen kommt und in vielen Jahren Leben Gewohnheiten angenommen hat, ob dieses Schauen seine Form schon in der Kindheit und Jugend im Rheinland bekommen hat und auch vor Italien, das man klischeehaft vollkommen anders fantasiert, keinen Halt macht. Ist Italien wirklich so grau, wie sie es schildert? So unwirtlich, so voller Friedhöfe und Krähen und voller Menschen, die eigentlich nur herum stehen, ohne je eine Aufgabe zu haben? Und wenn sie eine Aufgabe haben, dann besteht sie beispielsweise darin, Socken in Plastiksäcken auf Märkte zu schleppen in der Hoffnung, jemand möge einem ein Paar abkaufen.
Das Schauen, sowie das sich bewegen durch ein Gelände, ist es möglicherweise nicht nur durch die innere Befindlichkeit, hier Trauer, sondern auch durch die Herkunft geprägt?
Während die Kinsky Ferrara beschreibt, sehe ich meine Heimatstadt Opladen vor mir. Das Italien der Kinsky ist dieser Region ähnlicher als dem Italien, das ich mir erträumt habe. Nur einmal war ich dort. In Rom. Das ist lange her. Ich habe damals keine Münze in den Trevi Brunnen geworfen, weil ich ausdrücklich nicht abergläubisch sein wollte. Jetzt fürchte ich manchmal, dieser Faux pas ist der tiefere Grund dafür, dass ich seitdem nie wieder italienischen Boden betreten habe.
Das Italienbild, das ich habe, stammt von Ingeborg Bachmann, einer Freundin und den Filmen von Federico Fellini und Ein Herz und eine Krone. Ein Sehnsuchtsort. Nichts davon fand ich in Kinskys Buch. Sie schildert einen Ort, an den ich eigentlich nicht möchte. Was fährt sie auch immer ausgerechnet im Winter dorthin?

Sie bricht mit allen Italienklischees. Marschiert anstattdessen gnadenlos das Gelände ihrer inneren Verlorenheit ab, und sie tut dies in Italien, wo dieses Gefühl durch die Erinnerungen an den Vater und den Lebensgefährten beheimatet ist. Natürlich tut sie es im Winter, in der Trostlosigkeit, in der Einsamkeit, wo keine Touristenmassen sie von dem ablenken, was sie tun muss: sich selbst neu definieren als eine, die ihren Lebensgefährten verloren hat und sich in einem Abgrund in sich zurechtfinden muss, den sie so vorher nicht kannte.
Sie zieht durch das Gelände der Trauer in einer Sprache, die ihre Befindlichkeit in einen zähen Rhythmus übersetzt. Ich konnte dieses Buch nicht schnell lesen. Jeder Satz ist von Bedeutung, auch schwer. Oft drückten sie mich nieder. Es ist die Sprache einer Dichterin. Aber die Sprache einer spröden Dichterin, die nicht vorhat, sich selbst preis zu geben. Natürlich tut sie es doch.
Sie führt uns in Gassen, Brachen, über Straßen und immer wieder auf die Friedhöfe. Und wer je einen Menschen an den Tod verloren hat, versteht irgendwann, dass sie für uns alle ein Gelände abläuft, und manchmal schafft sie es, das Grau zu durchbrechen.

"Im Licht der späten Nachmittagssonne zeichneten sich tatsächlich im Südwesten die Ausläufer des
Apennin am Horizont ab, lilablau, deutlich gegen den helltürkisen Himmel umrissen, und wie ein Trost kam mir eine alte Ordnung der Welt in den Sinn."

Am Ende gar wird das Grau immer mehr von einem Blau abgelöst und mir schien, durch die Erinnerung an den Vater und seine Liebe zu Fra Angelicos Werk konnte ein Stückweit ein Heimweg angetreten werden in ein neues Ich, in dem die Trauer ein Teil von einem ist, wie so vieles andere auch, das einem im Laufe eines Lebens prägt, ohne einen vollends zu definieren.

Ein Buch, das ich mir in kleinen Portionen über mehrere Wochen erlas und das sicher noch lange in mir nachhallen wird.

(c) Susanne Becker



Kommentare

  1. Schön! Ich kann deine Lesestimmung wunderbar nachempfinden.

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    1. Danke Dir! Du weißt ja schon, dass ich Deine Rezension unglaublich schön fand :-) Liebe Grüße Susanne

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  2. Liebe Susanne,

    mit Deiner Rezension sprichst Du mir mal wieder in vielen Aspekten (ohne,dass ich es so treffend wie Du formulieren könnte ;-) ) - aus dem Herzen und einmal mehr danke ich Dir für Deinen Text/Deine Gedanken, die meinen Lektüregenuss gleichsam um eine Dimension vergrössert haben <3

    Liebe Grüsse aus dem gewitterumtosten Freiburg,
    Susan

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    1. Danke, liebe Susan! Das freut mich, wie immer, sehr! Komm gut durch die Hitze und liebe Grüße aus Berlin Susanne

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