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Aller Tage Abend - Jenny Erpenbeck

"...in seinem Inneren trägt er als ein großes schwarzes Land all die Geschichten, die seine Mutter ihm nicht erzählt oder verschwiegen hat, mit sich herum, trägt vielleicht sogar diejenigen Geschichten, die nicht einmal seine Mutter wusste oder in Erfahrung gebracht hat, mit sich herum, kann sie nicht los werden, aber sie auch nicht verlieren, weil er sie gar nicht kennt, weil all das in ihm begraben ist, weil er mit Innenräumen, die ihm nicht gehören, schon aus seiner Mutter geschlüpft ist und sein eigenes Inneres nicht anschauen kann."

Aller Tage Abend von Jenny Erpenbeck ist ein intensives Buch, das die Frage stellt, was möglich ist, was möglich wäre an verschiedenen Lebensentwürfen in einem einzigen Leben. - Sie lässt es mehrmals enden, dieses eine Leben: im Säuglingsalter, als junge Frau, als mittelalte Frau, als sehr alte Frau. Immer wieder beleuchtet sie, was geschehen wäre mit diesem einen Leben, mit den Leben derer, die verbunden sind mit jener Person, wäre sie nicht gestorben. Sie beleuchtet auch, was geschehen wäre, wenn sie gestorben wäre und, last but not least, sie beleuchtet, welche Zufälligkeiten zu dem einen führten und zu dem anderen hätten führen können. Klar wird bei der Lektüre ganz schnell, wie sehr das eigene, das individuelle Leben und sein gesamter Verlauf abhängt von diesen Zufälligkeiten, von diesen scheinbar belanglosen Augenblicksentscheidungen.
Dabei führt sie uns durch verschiedene geschichtliche Zeiten: das Vorkriegs-Wien, das Wien der Nazizeit, das Moskau während der Stalin Ära, das Ost Berlin der Deutschen Demokratischen Republik, die geöffnete Mauer, ... Die Zeit, in der wir leben, historisch betrachtet, auch davon hängt es ab, was möglich ist für uns.
Dabei wählte Jenny Erpenbeck für ihr Buch natürlich eine Person, die ganz nah dran war an den entscheidenden historischen Geschehnissen des vergangenen Jahrhunderts: als Halbjüdin, aktive Kommunistin, berühmte Schriftstellerin in der DDR berührte ihr Lebensweg die Progrome lange vor dem Holocaust, Auschwitz, stalinistische Säuberungen, Lager, DDR-Geschichte .... Es gab auch in jener Zeit Leben, die damit nicht so direkt in Berührung kamen.

Jenny Erpenbeck auf dem Balkon - gegossen werden müsste
Aber es ist ja so, auch wenn die Zeiten für uns persönlich nicht bedrohlich sein mögen, wenn wir gesund bleiben und die Geschehnisse, die später in einem Geschichtsbuch stehen werden, uns nicht direkt berühren, wenn wir einfach immer weiter leben mögen, gibt es sie, immer wieder, ohne dass wir es bemerken, diese kleinen Momente, die darüber entscheiden, wie es weiter geht, welches Leben wir leben, und welches wir nicht, niemals leben werden. Das niemals gelebte Leben wird uns dabei auf immer fremd bleiben. Wir werden nichts über es wissen. Auch jene, die mit uns verbunden sind, werden all jene Leben nicht kennen, die sie hätten leben können (oder auch nicht) wenn wir uns anders entschieden hätten an einer der vielen Gabelungen, oder wenn das Leben sich anders entschieden hätte, uns hinein geschmissen hätte in irgendeine ganz andere Geschichte, bevor wir uns versähen, abtransportiert in ein Leben, das wir gar nicht wollten. Auch das wird deutlich: es ist nicht so vieles unserer Freiheit überlassen, wie wir es, wie ich es, mir vielleicht manchmal wünschte. Das individuelle Leben ist ein Teil des Ganzen.
Jenny Erpenbeck hat sie aufgeschrieben, die verschiedenen Leben, in einer Sprache, die mich unglaublich berührte, mit einem Tiefgang, der mich immer wieder zum Mit- und zum Nachdenken anregte. Uns, die wir unser Leben leben, sind die Alternativen nicht bewusst. Wir wissen nicht, wie viele andere mögliche Leben hinter den Kulissen auf uns warteten, noch warten, einmal gewartet haben und was geschehen wäre, wenn ich  zum Beispiel damals nicht nach Berlin, sondern nach München oder in die USA gezogen wäre. Aber es macht irgendwie Spaß, sich all diese Möglichkeiten auszumalen. Es regt einen dazu an, sich die Alternativen auch noch einmal für die Zukunft genauer anzuschauen und die Wegkreuzungen, an welche man unwillkürlich immer gelangt, bewusster wahrzunehmen... natürlich in dem Wissen, dass das auch nicht wirklich einen Unterschied machen wird. Denn was geschieht geschieht.
Jeder von uns trägt in seinem Inneren ein großes schwarzes Land voll mit all jenen Geschichten, die uns niemals erzählt wurden, aber auch, die uns nicht widerfahren werden, die uns aber sehr gut widerfahren könnten. Diesen Gedanken finde ich unglaublich spannend.

© Susanne Becker



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