Ich habe Alice Munro sehr spät, erst im letzten November, durch eine Literaturbeilage der New York Times über die 100 bemerkenswerten Bücher 2012 entdeckt, ein Artikel, in dem mir unter den 100 genannten Titeln ihr Dear Life, also ihr aktuellstes Buch, sofort auffiel. Ich bekam es zu Weihnachten, las es auf der Stelle und war begeistert. Und das, obwohl ich eigentlich kein Kurzgeschichtenfan bin. Alice Munros Kurzgeschichten aber sind so prall gefüllt mit Geschichten, Menschen, Weisheiten, Schönheiten, dass man gesättigt aus jeder Lektüre aufsteigt, als hätte man mindestens einen Roman gelesen, nur ohne die vielen überflüssigen Worte.
Als ich heute morgen darüber nachdachte, wer wohl den Nobelpreis erhält und ihren Namen auf einer der Favoritenlisten sah, dachte ich kurz: ja, warum eigentlich nicht. Aber dann dachte ich: "Nein, das machen sie nicht. Sie werden ihn wieder jemandem geben, den niemand kennt und dessen Name kein Mensch aussprechen kann. Ist ja auch egal. Dann lernt man einen neuen Schriftsteller kennen!"
Als dann die Nachricht gegen 13 Uhr kam, habe ich mich sehr gefreut.
1. Weil sie nach Dear Life verkündet hatte, dass sie nicht weiter schreiben würde. Sie ist 82 Jahre alt. Es ist also verständlich, dass sie sich zurück ziehen möchte aus dem, wie sie es selbst einmal ausdrückte "einsamen Leben einer Schriftstellerin". Es steht ihr zu. Aber in einem Interview hörte ich soeben, dass dieser Preis sie eventuell dazu bewegen könnte, weiter zu schreiben. Das finde ich großartig.
2. Sie hat ihr erstes Buch veröffentlicht, als sie schon 40 Jahre alt war. Sie hat die Geschichten am Küchentisch verfasst, zwischen schmutzigem Geschirr und ihren Kindern. Sie hatte beim Schreiben damals ein schlechtes Gewissen, fühlte sich zerrissen zwischen ihren Pflichten als Mutter und ihrem Wunsch, zu schreiben. Sie hat zum ersten Mal mit 9 Jahren gesagt, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Mit 82 erhält sie den Nobelpreis. Eine wunderschöne Geschichte, die von ihrer Hingabe ans Schreiben, ihrem unglaublichen Durchhaltevermögen und ihrer Kraft erzählt.
3. Es wird mir plötzlich bewusst, welch ausgefeilte und eigenständige Kunstform die Kurzgeschichte eigentlich ist. Immer dachte ich, auch in meinem eigenen Versuch zu schreiben, ein Roman müsse es sein, ein Roman sei das Größte. Aber heute lief ich den ganzen Tag herum und dachte: "So ein Quatsch!" Alice Munros Kurzgeschichten sind kleine Romane und sagen oft viel mehr als ein langer Roman. Es verlangt eine ungeahnte Könnerschaft, in einer kurzen Form so viel zu sagen. Ich bin dankbar, dass durch diesen Preis diese Tatsache hoffentlich nicht nur in mein Bewusstsein gerückt ist. Die Begründung für die Preisvergabe lautete denn auch, dass Alice Munro eine Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte sei.
4. Dass jemand den Nobelpreis für Literatur gewinnt, die über ganz normale Menschen schreibt in ganz normalen Lebenssituationen und diese so beschreibt, wie sie sind, mit einer unglaublichen Güte und einem großen Mitgefühl, jemand, die alles Menschliche bis in die tiefsten Tiefen hinein zu verstehen scheint, ohne je auch nur einen Anflug von Überheblichkeit oder Spott nötig zu haben - das gibt mir Hoffnung. Alice Munro schreibt mit Liebe.
5 Und last but not least freue ich mich sehr lapidar darüber, dass noch einmal eine Frau den Literaturnobelpreis gewinnt. Das kommt ja nicht soooo häufig vor. Insgesamt nur 13 der 109 mit diesem Preis geehrten Personen sind bis heute weiblich gewesen. (1909 Selma Lagerlöf, es folgten 1926 Grazia Deledda, 1928 Sigrid Undset, 1938 Pearl S. Buck, 1945 Gabriela Mistral, 1966 Nelly Sachs, 1991 Nadine Gordimer, 1993 Toni Morrison, 1996 Wisława Szymborska, 2004 Elfriede Jelinek, 2007 Doris Lessing, 2009 Herta Müller und 2013 Alice Munro.) Ich würde sagen, da geht noch was und flüstere dem Komitee schon heute für das nächste Jahr zu: Ihr könnt ruhig nochmal eine Frau auszeichnen. Da ist noch viel Luft nach oben!!! Wenn Euch keine einfällt, ruft mich ruhig an!
Für alle die englisch lesen, sei dieser Reading List für Alice Munros Werk empfohlen, um eine erste Orientierung zu erhalten.
Für alle, die deutsch lesen, hat die Klappentexterin eine prima Liste zusammen gestellt, an der man sich nach eigenem Gusto erst einmal entlang arbeiten kann.
Ich empfehle Dear Life, das ist klar und werde als nächstes von ihr The love of a good woman aufschlagen.
Viel Spaß Euch allen mit Alice Munro!
© Susanne Becker
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