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Buch der Woche - Jhumpa Lahiri, Das Tiefland

Den Roman Das Tiefland von Jhumpa Lahiri hatte ich schon seit über einem Jahr neben meinem Bett liegen. Die ersten Seiten las ich im Dezember, nur um mich dann durch Weihnachtsgeschenke und den restlichen Stapel neben meinem Bett immer wieder ablenken zu lassen.
Aber in der vergangenen Woche konnte ich dem Buch nicht länger aus dem Weg gehen.
Die Geschichte der beiden in Kalkutta aufwachsenden Brüder Udayan und Subhash entwickelte plötzlich einen Sog und ich wollte mehr erfahren über sie und ihre Geschichte.
Subhash ist um zwei Jahre älter, auch ist er vernünftiger, hält sich an die Verbote der Eltern. Udayan ist wild und voller Energie und liebt es, Risiken einzugehen, er scheint beinahe mit der Gefahr zu flirten. Subhash muss dann mit, denn die beiden sind praktisch unzertrennlich, fast wie Zwillinge.
Als die beiden die Schule abgeschlossen haben, beginnen sie zu studieren. Dabei kommt Udayan immer mehr in Kontakt mit einer maoistischen Studentenbewegung, den Naxaliten, die sehr radikal sind. Subhash hingegen entwickelt großen Ehrgeiz bezüglich seines Studiums und bewirbt sich für einen Aufenthalt in den USA. So trennen sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben.
Subhash lebt in Rhode Island, Udayan in Kalkutta, wo er Gauri kennenlernt, die Schwester eines Studienfreundes, eine Philosophiestudentin, die voller Leidenschaft für ihr Fach ist. Die beiden verlieben sich und heiraten ohne Einverständnis der Familien. Dennoch nehmen Udayans Eltern sie, wie es Brauch ist, in ihrem Hause auf. Währenddessen studiert Subahsh weiter. Ab und zu erhält er Briefe von Udayan, in denen dieser aus seinem Alltag, ganz unspektakulär, berichtet. Er wundert sich ein wenig, und fragt sich, wo das politische Engagement seines Bruders geblieben ist, ob er durch die Ehe zahm geworden sein könnte, anstatt weiterhin von einer Revolution zu träumen. Ganz kann er daran aber nicht glauben. Es gibt Momente, da taucht in ihm die Frage auf, ob all diese Briefe gelogen sind, eine Art Tarnung. Ob dahinter der Revolutionär gefährlich aktiv sein könnte. Immer wieder fragt Udayan ihn, wann er nach Kalkutta zurück kommt. Aber Subahsh spürt in sich keinen Wunsch danach. Er fühlt sich wohl in Amerika. Eines Tages aber erhält er ein Telegramm seiner Eltern, dessen Inhalt ihn umgehend nachhause zurück ruft.

Dies ist ein Buch darüber, wie die Entscheidung eines Einzelnen die Leben vieler Menschen für immer vollkommen verändert.
Das Buch ist meisterlich geschrieben - eine groß angelegte Geschichte über circa sechzig Jahre und zwei Kontinente hinweg, dreht sie sich immer wieder abwechselnd um die Hauptpersonen und schildert die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Dadurch setzt sich, wie bei einem dreidimensionalen Puzzle, ein Gesamtbild zusammen, das mich am Ende so angefüllt zurück ließ, dass ich jetzt gar nicht weiß. welches Buch ich als nächstes anfangen könnte. Ich hatte das schon lange nicht mehr, dass ich nach einem Buch nicht sofort das nächste beginnen konnte. Aber diesmal ist es so. Gauri, Subhash und Udayan sind noch so lebendig in mir, in einem beglückenden Sinn, dass ich sie nicht sogleich mit neuen Protagonisten ersetzen mag. Ich möchte noch eine Weile ungestört mit ihnen verbringen.

Jhumpa Lahiri ist eine amerikanische Schriftstellerin indischer Abstammung.  Sie hat unter anderem den Pulitzer Preis gewonnen. Das Tiefland war auf der Shortlist für den Man Booker Prize.

© Susanne Becker

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