"Allerdings muß man sich klarmachen, was geschehen würde oder mancherorts bereits geschieht, wenn man sich zu Härte und Abschottung entschließt. Das eigene Herz würde verhärten und die Offenheit verkümmern, die Europa als Projekt und Folge der Aufklärung ausmacht. Man würde nicht nur vor den Grenzen Europas, sondern unmittelbar an den Grenzen Deutschlands ein gewaltiges Elend sehen, ohne die Hand auszustrecken. Dafür jedoch muß man den Fremden dämonisieren, muß ihm sein Schicksal selbst zuschreiben - seiner Kultuer, Rasse oder Religion -, ihn in Büchern, Medien und schließlich sogar auf Plakatwänden herabsetzen, immer nur das Schlechte an ihm hervorheben und ihn so zum Barbaren machen, um sein Leid nicht an sich heranzulassen."
Manchmal fürchte ich mich regelrecht davor, das Internet zu betreten, das mittlerweile ja auch ein Raum für Auseinandersetzungen geworden ist, die jedes Niveau vermissen lassen, auch jede Faktizität. Da werden demagogisch und populistisch vor allem Ängste bedient und instrumentalisiert. Manchmal fürchte ich mich auch davor, was ich an Fakten dort und in den Zeitungen und Büchern finde, weil ich mit meinen Gefühlen und meinem Denken so schnell gar nicht hinter der Wirklichkeit herkomme, wie es in den letzten Monaten nötig scheint. Mir einen Standpunkt zu verschaffen, das überfordert mich eigentlich sehr oft. Auch wenn die Seite, auf der ich stehe, für mich völlig klar ist, habe ich doch auch Angst vor den Konsequenzen dieses Standpunkts.
Die Flüchtlingskrise, die seit noch nicht einem Jahr auch in Deutschland angekommen ist, während sie zum Beispiel auf Lampedusa oder Lesbos schon viel länger Realität war, überfordert fast jeden. Die Stimmung, die sich daraufhin in den Netzwerken, aber auch im Leben breit macht, ist ein Verhärten der Fronten, eine Mischung aus Gewalt und Häme, die man bislang vom Hörensagen kannte, die aber jetzt echt ist, einem jeden Tag ins Heim strömt, man muss nur online gehen.
Die Gewalt und Verachtung, die dort verbal zelebriert wird, findet in brennenden Asylbewerberunterkünften und bedrohten Flüchtlingen ihren Niederschlag, aber auch in Drohungen gegen Menschen, die sich für Flüchtlinge oder, beispielsweise, gegen die AfD engagieren, und diese Härte, die sich ausbreitet, verändert uns alle.
Da tut es mir immer wieder gut, einem Autor wie Navid Kermani zu begegnen, dessen kluge Worte sich wie Balsam auf die Seele legen, selbst dann noch, wenn sie Schreckliches beschreiben.
Klug, mutig und besonnen ist dieser Navid Kermani, und obwohl er sich sehr klar auf einer Seite positioniert, derjenigen der Hilfsbedürftigen, die zu uns kommen mit ihrem nackten Leben, ist er doch nie so borniert, nicht auch das Kritische auf der eigenen Seite zu sehen und zu benennen.
Einer der besten deutschen Schriftsteller ist ein muslimischer Mann. Einer der klügsten deutschen Köpfe derzeit ist ein muslimischer Mann. Mehr gibt es zu der Frage, ob der Islam eigentlich mittlerweile zu Deutschland gehört, aus meiner Sicht gar nicht zu sagen.
Navid Kermani, der nicht nur ein begnadetet Schriftsteller, sondern auch ein herausragender Journalist und Reporter ist, macht sich im September 2015, gemeinsam mit dem Magnum-Photographen Moises Saman auf den Weg den Flüchtlingen entgegen und reist die Balkanroute in umgekehrter Richtung entlang. Entstanden ist,außer einer Reportage für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, das dünne Büchlein "Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa." in dem er Begegnungen, Beobachtungen und Orte schildert. Budapest, Lesbos, Belgrad, Assos und Izmir in der Türkei. Er begegnet dem absoluten Elend und der absoluten Freude, der Erleichterung, den Engagierten, den Wegschauern und der Erschöpfung und stellt beim Betreten der Fähre von Griechenland in die Türkei fest: "Teilten früher Standeszugehörigkeiten die Menschheit auf, so sind es heute Staatsangehörigkeiten und Aufenthaltsrechte, die Menschen erster, zweiter und dritter Klasse schaffen - schwer für einen heutigen Westeuropäer nachzuempfinden, was Grenzen für den Bürger eines verarmten oder verfemten Staates bedeuten, geschweige denn für einen Staatenlosen oder Flüchtling."
Wie sehr ist meine bundesdeutschen Geburt, die mich vor den allermeisten Menschen dieser Welt privilegiert, ein Produkt des Zufalls, mitnichten ein Verdienst, und es hätte nicht viel dazu gehört, eine kleine Verschiebung in der Zufallskette, und möglicherweise wäre ich in Aleppo geboren.
Kermanis Eindrücke sind stark und intensiv und er schafft es, sie sehr klar zu formulieren, ohne den moralisch erhobenen Zeigefinger. Er stellt die Sachverhalte, denen er auf seiner Reise begegnet, fest. Da er ein begnadeter Schreiber ist, tut er dies auf eine Weise, die sich so weg liest.
Mehr brauche ich persönlich gar nicht, um mir eine eigene Meinung bilden zu können! Aber es ist soviel mehr, als man an den meisten Tagen zu diesem Thema geboten kriegt.
Ganz große Leseempfehlung! Erschienen ist das Buch übrigens im Verlag C.H.Beck
© Susanne Becker
Kommentare
Kommentar veröffentlichen