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Gertrud lernt den Nachbarn kennen aus Schwäne lieben anders



Ihr Nachbar Cornelius Kowalski hatte einen Unfall, in dem Jahr als Ursel etwa dreizehn Jahre alt war. Er stürzte beim Äpfelpflücken von der Leiter und brach sich den Oberschenkelhals. Die Kowalskis hatten einen großen Garten, der mit seiner schmalen Seite an den viel kleineren Garten von Gertrud und Rudolf direkt angrenzte, sich von dort über mehrere Grundstücke hinweg erstreckte, so dass man von ihrem Zaun aus einen weiten Blick über diesen Garten hinweg hatte. Oft stand Gertrud am Zaun und ließ den Blick schweifen über diese Oase, die ganz offensichtlich jemand mit gärtnerischem Verstand so angelegt hatte. Man sah eine Wiese, die im Sommer mit wilden Blumen überwuchert war. Es wurde bei den Kowalskis nicht überall regelmäßig gemäht. Rudolf ärgerte das sehr. „Die ganzen Samen von dem Unkraut fliegen rüber zu uns. Rücksichtslos nenne ich das. Aber der Herr Oberlehrer hat ja seine eigenen Regeln.“ Es war eine Tatsache, dass sich Rudolf Herrn Kowalski unterlegen fühlte, weil dieser Lehrer war, Fremdwörter benutzte und einen Garten anlegte, der in keiner Weise den quadratisch und ordentlich sortierten Gärten der Nachbarschaft entsprach. Dieser Garten war wild, überwuchert, überall blühte und zirpte es und die Wiese war eingerundet von blühenden Hecken und Obstbäumen. Sie war somit eine direkt gerichtete Kritik an den quadratisch und ordentlich angelegten Gärten der Nachbarschaft. Wenn Gerda am Zaun stand und einfach hinein träumte in dieses bunt gemusterte saftige Grün, dann freute sie sich. Der Garten maß wenigstens zweitausend Quadratmeter. Von der Straße aus war er kaum einsehbar. Überall wuchsen Hecken und Sträucher. Gertrud wusste, dass er es war, der den Garten pflegte. Reden tat sie mit seiner Frau, vorne vor der Haustür. Hinten im Garten sah man sie höchstens mal am Wochenende, wenn sie sich sonnte auf einer großen Liege neben dem hellblau gestrichenen Geräteschuppen. „Wie kann man seinen Schuppen hellblau anpinseln. Ich bitte dich, Gertrud, der Mann hat den Verstand verloren.“ Rudolf fühlte sich von diesem Nachbarn nicht selten direkt in seinem Seelenfrieden bedroht.  Er schüchterte auch Gertrud ein. Anfang 50, sah er auffallend gut aus für einen Mann ihres Ortes und seines Alters. Kaum ein Bauchansatz zeigte sich über dem Hosenbund und man sah ihm an, dass er nicht dumm war. Er ragte heraus unter den Männern hier, die an sich selbst keine allzu großen Ansprüche stellten. Manche der Frauen in dem Ort machten sich zum Narren, sobald er beim Metzger oder auf dem Sportplatz auftauchte und jede wollte, dass er sie beachtete. Gertrud tat das nicht, sie würdigte ihn normalerweise keines Blickes. Später sagte er ihr, dass er sie für arrogant gehalten habe. Das war sie auch. Aber nicht auf ihn gerichtet, sondern auf die anderen Frauen. Sie wollte sich nicht benehmen wie diese.
Er war, soweit sie es beobachten konnte, zu allen Frauen stets gleich höflich. Wenn er im Garten war und einen von ihnen sah, winkte er und rief eine Bemerkung zum Wetter über die Hecke herüber, mehr nicht. Im Nachhinein kam es ihr so vor, als habe sie damals bereits bei jeder Begegnung eine leichte Beschleunigung ihres Herzschlags wahrgenommen. Aber damals waren ihr diese Beschleunigungen nicht bewusst gewesen, möglicherweise bildete sie sie sich im Nachhinein auch nur ein. Ein großer Teil der Vergangenheit bekam in der Rückschau neue Bedeutungen, wenn man sich verliebte. Da wurden Dinge zu Zeichen und Omen, die einem vorher nicht aufgefallen waren. Die Gespräche. Mit seiner Frau Hedwig unterhielt sie sich manchmal, wie gesagt, länger, aber niemals tiefer. Sie war eine berufstätige Frau, sie war selten zuhause, ihre Söhne kamen schon gut allein zurecht. Sie verdrehte die Augen über ihren Mann, der außer seinem Garten nichts verstand. So unter Frauen verdrehte sie die Augen, so wie alle Frauen untereinander über ihre Männer die Augen verdrehten, manchmal. Verbündete, miteinander vertraut, weil sie das gleiche Schicksal teilten, mit dem Mitglied einer vollkommen fremden Spezies verbunden zu sein. Es war also eine höfliche, jedoch distanzierte Nachbarschaftlichkeit. Und doch verteidigte sie, Gertrud, Cornelius immer gegenüber seiner eigenen Frau. Woraufhin diese einmal sagte, und es klang im Nachhinein wie ein Omen: „Tja, vielleicht hätten Sie besser meinen Mann geheiratet.“ Das muss man sich mal vorstellen. Das sagte sie einfach so. Später dachte Gertrud, dass sie recht gehabt hatte. Aber damals war ihr diese Bemerkung einfach nur unangenehm gewesen und sie schämte sich für ihre Nachbarin, weil man so etwas nicht sagte, nicht unter Fremden, die sie schließlich waren, da gab man sich eine solche Blöße nicht.
Nachdem Cornelius den Unfall gehabt hatte, veränderten sich die Verhältnisse vollkommen.
Da seine Frau Hedwig arbeitete, ihre beiden Söhne waren auf dem Gymnasium und hatten täglich bis zum Nachmittag Unterricht, und Cornelius nicht laufen konnte, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, für sechs lange Wochen sollte er auch nicht laufen, um das Bein nicht zu belasten und die Heilung nicht zu behindern, bat Hedwig ihre Nachbarin Gertrud an den Vormittagen, wo sie doch sowieso die ganze Zeit zuhause war, bei ihm gelegentlich nach dem Rechten zu sehen, ihm das Essen aufzuwärmen, das sie für ihn am Abend vorgekocht hatte. Hedwig Kowalski wirkte zu diesem Zeitpunkt genervt. Sie war Studienrätin, sie hatte eine Aufgabe im Leben, Gertrud war Hausfrau, da konnte man sie fragen, um Hilfe, da waren die Verhältnisse im Grunde geklärt, ohne dass man über sie hätte reden müssen. Hedwig wollte Gertrud bezahlen für ihre Hilfe, eine Art Dienstleistung, aber Gertrud winkte ab und sagte, dass sie als Nachbarin eine solche Hilfe selbstverständlich leisten könnte, ohne dafür eine Gegengabe zu erwarten, gar kein Problem. Zu sich selbst sagte sie: „Das hättest Du gerne, Hedwig Kowalski, dass deine Nachbarin mit dem kleineren Garten, mit dem kleineren Haus und den Kittelschürzen, auf die du immer schon herabgeschaut hast, die polnische Pflegerin ersetzt.“
Sie bekam den Hausschlüssel der Kowalskis und die beiden vereinbarten, dass Gertrud immer gegen elf Uhr kommen sollte, damit Cornelius sich darauf einstellen konnte. Es war genau die Zeit am Morgen, an der sie sich sonst immer ein wenig gelangweilt hatte. Sie hatte dann begonnen, sich die Quadrate für ihre Decke auszudenken und vorzubereiten, die sie an den Abenden nähen wollte.

Die ersten Male gab sie ihm nur etwas zu trinken und machte ihm das Essen warm. Sie blieb in der Küche oder auf der Terrasse und wartete, bis er fertig gegessen hatte. Dann räumte sie das Geschirr in die Spülmaschine und ging recht schnell wieder. Sie redeten über das Wetter, mehr nicht, und waren extrem höflich zueinander. Gertrud schminkte sich ein wenig, bevor sie zu ihm ging. Sie zog die Kittelschürze aus, die sie zuhause immer trug und am Anfang trug sie Hosen und T-Shirts, irgendwann dann die Kleider, die ganz rechts in ihrem Kleiderschrank hingen, auf der Schrankseite, die sie schon lange nicht mehr geöffnet hatte. Diese Kleider waren ewig nicht getragen worden. Aber ihr Körper hatte sich nicht verändert mit den Jahren, mit der Geburt eines Kindes. Sie war die gleiche üppige Person mit exakt den gleichen Rundungen an den richtigen Stellen geblieben. Das Kleid, das sie sich zum ersten Hochzeitstag genäht hatte, hellblau, es saß wie angegossen. Lippenstift. Ein Hauch Parfum. Es öffnete sich ein Raum. Sie betrat ihn. Wie bin ich hierher gekommen? Es war nichts. Sie ging einfach nur hinüber, brühte Kaffee auf, machte Essen warm, wischte übergelaufenes auf, wie zuhause, im Grunde, und doch vollkommen magisch. Ein Raum voller Möglichkeiten. Ja, die meisten blieben ungenutzt im Leben, aber diese wollte sie plötzlich mit aller Macht ergreifen.
Schon am zweiten Tag fragte er sie, ob er ihr vorlesen dürfte. „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi. Sie nickte, verunsichert, vermutlich wurde sie rot. „Kann ich dabei ein wenig sauber machen?“ „Sie sind doch nicht als Putzfrau hier.“
“Wenn du gehofft hattest, in der Zukunft etwas zu sein und etwas zu leisten, so wirst du als Ehemann auf Schritt und Tritt spüren, dass für dich alles zu Ende ist, dass dir jede Arena verschlossen ist, außer dem Salon, wo du dann mit einem lakaienhaften Höfling und einem Idioten auf gleicher Ebene stehen wirst…Ein schöner Genuss!” Seine Stimme war dunkel, getragen, als Lehrer war er, so dachte sie, daran gewöhnt, vorzulesen. „Lesen Sie das Ihren Schülern vor?“ „Nein, ich lese meinen Schülern nicht vor. Sie müssen selbst lesen. Ich habe früher meinen Kindern vorgelesen. Schon lange will aber hier niemand mehr, dass ich ihm vorlese.“
Er tat sich selber leid. Warum auch nicht? Sie bat ihn, ihr mehr vorzulesen.
In Gertruds Haus gab es ja keine Bücher. Ursel, na gut, ihre Tochter Ursel schleppte kistenweise Bücher ins Haus. Neuerdings. Sie war dreizehn, da hatte sie das Lesen für sich entdeckt. Zu Weihnachten wünschte sie sich ein Regal. Das alles erzählte sie Cornelius. „Keine Bücher?“ Diese Frage war ihr plötzlich peinlich. „Nein, wir lesen nicht. Wir sehen eher fern.“ Er nickte und dann las er weiter.
Während er las, betrachtete sie ihn unauffällig. Da war eine Quelle für sie, und sie strotzte plötzlich von einer Energie, wie sie sie seit den Tagen in Ohligs Saal nicht mehr erlebt hatte. Sie blieb etwa eine Stunde bei ihm, wärmte ihm noch sein Essen auf, arrangierte es auf einem Teller und stürzte sich dann zuhause sofort auf die Kiste mit den Stoffresten. Sie nähte in dieser Zeit eine ganze Reihe von Quadraten für ihre Decke. „…dass für dich alles zuende ist.“ Schwarzer Stoff mit einer Diagonalen von links oben nach rechts unten in Gold. Sie gab ihm ihre Telefonnummer, für den Fall, dass an den Nachmittagen, bevor seine Familie heimkam, irgendein Problem auftreten würde. Einmal rief er an: „Mir ist das ganze Essen vom Teller in den Schoß gerutscht. Könnten Sie noch einmal herkommen, bitte?“
Sie lachte: „Wir könnten uns auch duzen. Es ist irgendwie blöde, wenn wir uns weiter siezen, wo ich jetzt schon Dein Bett sauber mache.“ Es war eine regelrechte Sauerei, Sauce und Gemüsestückchen, zerquetscht und matschig, überall, vor allem in der Ritze zwischen den beiden Matratzen, die eine, links, eindeutig unbenutzt, er lag rechts. Sein Pyjama war voll, musste gewechselt werden, das war nicht einfach. Sie musste ihm beim Ausziehen helfen. Sie sah seine nackten Beine, seinen Po, und errötete und dann war es ganz normal, als gehörte es dazu, dass er in ihrer Gegenwart auch einmal nackt wäre. Ganz normal. Er und sie. „Ja, ich denke du hast recht, wir sollten uns duzen.“ Da war ein Raum, in dem sie einander ganz einfach zugehörten. Unglücklicherweise war dieser Raum einer der schönsten, die Gertrud jemals in ihrem Leben betreten hatte. Das war für die weitere Bewältigung ihres Alltags eher hinderlich.
„Du hast eine sehr schöne Stimme“ sagte Cornelius, „am Telefon“. Sie spürte, wie ihre Ohren von Wärme durchpulst wurden. Möglicherweise war dies das einzige Kompliment, das ihr je gemacht worden war. „… dass für Dich alles zuende war.“ Weil es aus so einer Tiefe kam, einem Raum, der groß war, viel größer als alle Räume, in denen sie sich bislang bewegt hatte. Wenn es zuende wäre, dann wäre da dieser Schmerz, zu gewaltig, um seiner habhaft werden zu können in einer angemessenen Art und Weise. Es war natürlich alles zuende, unvorhergesehenerweise war der Anfang ihrer Ehe mit Rudolf, so muss man es sagen, auch der Anfang vom Ende ihrer Träume gewesen. Aber obwohl sie das damals ganz deutlich wusste, konnte sie es einfach immer noch nicht glauben.
Als sie mit Rudolf getanzt hatte, da hatten sie große Schritte, wilde Umdrehungen geteilt und es hatte nicht so gewirkt, als würden sie sich gemeinsam mit nur einem halben Leben zufrieden geben. Dennoch gab es keine Möglichkeit, diese Halbheit einer Ganzheit entgegenzustellen, möglicherweise etwas einzuklagen. Bei wem auch?
Dann ging sie zu ihrem Nachbarn, sie ging zu Cornelius, der vor kurzem noch Herr Kowalski mit dem großen Garten gewesen war, in den hinein sie ihre Träume geträumt hatte. Herr Kowalski, der immer samstags um halb drei begann, einen Teil seiner Wiese zu mähen. Und da der Garten riesig war, konnte das dauern, manchmal bis gegen achtzehn Uhr, bis er endlich damit fertig war. Das machte Rudolf wahnsinnig. „MAN HAT JA HIER NIE SEINE RUHE!“ Er konnte wütend werden auf eine leise Art und Weise, die sie ängstigte, manchmal, weil dieses Verhalten dem Rest seines Wesens so gar nicht zuzugehören schien. Wenn aber Cornelius Kowalski der Auslöser war, dann wurde er auf eine laute und heftige Weise wütend. Sie nervte der Rasenmäher auch. So war es nicht. Einmal mähte Rudolf, nur um sich zu rächen, am Sonntagmorgen ihren Rasen. Eine ganze Stunde lang fuhr er mit ihrem Benzinrasenmäher, der immer wieder ausging, der laut war, in ihrem Garten hin und her. Sie stand nervös am Küchenfenster und blickte hinaus, darauf wartend, dass irgendein Nachbar kam und sich beschwerte. Man durfte am Sonntag weder Rasen mähen noch Wäsche aufhängen draußen und das wusste Rudolf auch. Das waren geklärte Verhältnisse bei ihnen im Ort. Irgendwann schlug Hedwig Kowalski ziemlich laut und demonstrativ ihre Balkontür zu. Mehr nicht.
Als sie begann, hinüber zu gehen, machte Rudolf Witze darüber am Anfang. Aber auch er fand es selbstverständlich, einem Nachbarn zu helfen. „Wie siehts denn in deren Haus aus?“ wollte er wissen. „Sie haben viele Bücher.“ „Aha, sind also wirklich so oberschlaue, was?“ Er schmunzelte konspirativ, als wären sie beide solchen Menschen, die es nötig hatten, Bücher zu lesen, Lichtjahre voraus. Nicht ein einziges Mal kam er auf den Gedanken, sie könnte diesen so anderen Mann womöglich ihm vorziehen.
Ich sehe mich zum ersten Mal. Silberner Stoff, auf dem sie das Gesicht einer Frau mit feinen Stichen stickte. Da hatte sie bereits ein Geheimnis, da betrog sie bereits ihren Mann in Gedanken. Vielleicht sollten Männer, die frisch aus einem Krieg kommen, nicht als erstes heiraten und so tun, als wären sie noch die Alten. Wem hätte sie erzählen sollen, was mit ihr geschah? Daraus wäre nichts als Schmerz entstanden. Darüber ließ sich nicht sprechen. Also verschloss sie der Frau auf dem silbernen Quadrat mit kleinen schwarzen Stichen den Mund.
Er malte ein Bild für sie, den Blick auf seinen Garten aus dem Fenster heraus, an dem er den größten Teil des Tages saß oder lag. Was du erwartest, kommt niemals von selbst zu dir schrieb sie hinten auf das Bild und dann versteckte sie es in einem Quadrat, ganz klein zusammen gefaltet. Sie nannte das Quadrat einfach nur Geheimnis und es war rot, sonst nichts. Rot wie die Liebe. Nach drei Wochen hatte er einen Rollstuhl und er schaffte es, sich hineinzusetzen und sie fuhr ihn durch seinen Garten. Der Garten der Kowalskis war größer als ein Fußballfeld und verwinkelt mit kleinen gepflasterten Wegen, einem Teich mit Goldfischen, blühenden Blumen in allen Farben, Rosen, einer Steinmauer, die mediterran überwuchert war, an einem Ende. Über die beschwerten sich die Nachbarn auf der anderen Seite gerne und in den Büschen hingen Spiegel und es standen kleine Statuen darin, natürlich keine Gartenzwerge. All das hatte sie von ihrem Zaun aus gar nicht sehen können.  Cornelius war Philosophielehrer an einem Gymnasium in der Kreisstadt, drei Kilometer entfernt von ihrem Ort. Es war ganz einfach zu erkennen, worum es ging, darum, ganz andere Räume zu betreten, als jene, in denen man sich normalerweise in so einer Art Alltag bewegte. Es ging nicht um Dinge, die man erledigen musste oder um Ärger mit den Nachbarn. Es ging um etwas ganz ruhiges, friedliches. Wenn sie wieder zuhause in ihrer Küche war, ließ sie jedes Wort, das sie gewechselt hatten, durch sich hindurch wandern, ging das ganze Gespräch wieder und wieder durch, die Worte waren nicht wichtig, sondern nur Angelhaken, mit deren Hilfe sie sich in den Raum zurück katapultierte und glücklich war. Cornelius’ Garten war ein grünes Quadrat, mit Blüten übersät, die sie alle stickte. Das war eigentlich die einzige Phase, in der sie stickte. Es geht darum, ganz andere Räume zu betreten, innerlich. Auf den Zettel schrieb sie: Es geht nicht um Selbstmitleid. Die Räume waren licht und weit und es gab in ihnen keine Urteile, keine Zwänge.
Als Cornelius ihr mitteilte, dass seine Ehe ein Desaster war, überraschte es sie nicht. Sie hatte genug gesehen, um dies längst zu wissen.  „Hedwig wollte mich eigentlich verlassen. Wir haben vor dem Unfall darüber gesprochen. Sie wollte ausziehen, in eine eigene Wohnung, drüben in der Stadt. Jetzt verstehen wir uns gerade zwar ganz gut. Ich gehe aber davon aus, dass sie mich verlassen wird. Sobald ich wieder laufen kann, werde ich ihr wieder zu bestimmend sein. Ich denke, wir verstehen uns jetzt gut, weil ich nicht viel machen kann.“ Er grinste und ein wenig störte es sie, dass er in ihrer Gegenwart negatives über Hedwig andeutete. „Meine Ehe ist auch nicht so gut, aber es gibt keinen Weg, sie zu beenden.“ Das für dich alles zuende ist konnte sehr verschiedene Bedeutungen annehmen.
Er nahm ihre Hand. „Warum nicht?“ Sie zog sie nicht weg. „Weil ich nicht den Mut habe, Ursels Leben zu zerstören.“ Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Ihr Körper zitterte und sie brachte kein weiteres Wort mehr hervor an diesem Morgen. Schweigend schob sie ihn zurück zum Haus und lächelte, als sie ging. Er winkte ihr zu. Sie kam sich vor, als nähme sie an einer Verschwörung teil.
Selbst wenn Hedwig sich von Cornelius trennen würde, würde sie doch niemals die Kraft aufbringen, sich von Rudolf zu trennen und von Ursel. Es war vollkommen klar, dass sie in ihrem Leben bleiben würde und der Gedanke brachte sie beinahe um den Verstand.
Als sich das Ende ihrer gemeinsamen Zeit näherte, merkte sie, dass sie kaum noch hingehen konnte. Sie hielt die Abschiede nicht aus. Danach ging sie hinüber in ihr Haus und weinte zwei Stunden, manchmal weinte sie den ganzen Tag. Sie weinte beim Kochen und abends vorm Fernseher beim Nähen. Sie weinte im Bett, sobald Rudolf neben ihr eingeschlafen war. Niemand bemerkte etwas. Niemand fragte sie jemals, warum sie so rote Augen hatte oder warum ihr Gesicht so nass war.
Trauer  wurde ihr liebstes Quadrat. Auf grünem Untergrund eine wilde mit Blumen überwucherte Hecke, darin ein Spiegel. Sie hatte einen echten kleinen Puppenspiegel auf das Quadrat genäht.
Am letzten Tag ging sie hin, in ihrer Kittelschürze und ohne Make up, ohne Parfum, und sie trug auch sonst nichts darunter. Sie schob Cornelius, der eigentlich schon wieder laufen konnte, aber sich noch schonen sollte so gut es ging, in einen Teil des Gartens, den niemand einsehen konnte. Sie stellte sich vor ihn und schaute ihm in die braungrünen Augen und dann öffnete sie mit zitternden Fingern unsicher die einzelnen Knöpfe, bis sie fast nackt vor ihm stand. Er zog sie an sich und sie liebten sich dann, ganz langsam im Sitzen, auf dem Rollstuhl. „Das ist mein Abschiedsgeschenk an Dich gewesen“, sagte sie, nachdem sie wieder mit zugeknöpftem Kittel vor ihr stand. Er nickte. Keiner von beiden sprach ein Wort, als sie ihn zurück zum Haus schob. Auf der Terrasse winkte er ab, als sie ihm noch hinein helfen wollte. „Du gehst jetzt besser. Ich schaffe das allein. Ich muss es alleine schaffen und ich kann das.“ Sie schauten sich noch einmal kurz an und dann sie ging sie hinüber und weinte, sie weinte den ganzen Tag.

Ein paar Tage später griff sie zum Telefon und rief ihn an, um ihm ein Angebot zu machen. Er akzeptierte das Angebot.

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