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Berlinale

Ich wohne seit siebzehn Jahren in Berlin und heute war das zweite Mal, dass ich auf der Berlinale war. Das ist so unglaublich oberpeinlich, dass ich mich gerade frage, ob ich weiter schreiben soll oder ob ich hier einfach aufhöre und keiner wird es je erfahren. Ich muss leider weiter schreiben, weil der Film und das ganze Erlebnis so schön waren. Ich will mich mitteilen. Peinlich hin oder her.

Das erste Mal war ich vor sechzehn Jahren dort. Meine damalige Mitbewohnerin arbeitete bei der taz und bekam Freikarten, die sie sehr großzügig verteilte. Ich sah mir damals Wag the Dog an,einen Film mit? na? na? na klar: Robert de Niro. Wer sonst könnte mich auf die Berlinale zerren? Besonders aufregend war die Tatsache, dass zwei Filme von ihm gleichzeitig gezeigt wurden, in zwei verschiedenen Kinos. An den anderen kann ich mich nicht mehr erinnern. Den ganzen Tag verfolgten meine Mitbewohnerin und ich die Gerüchte, denn, das noch viel aufregendere war, dass Robert de Niro in der Stadt war und an einer der beiden Vorstellungen teilnehmen würde. Es war nur nicht klar, an welcher.
Ich bringe den Luftballon jetzt gleich zum Platzen: es war nicht Wag the Dog.
Ich hörte dann später, dass er noch nicht mal auf der tollen Afterfilmparty in der Arena war, für die wir keine Karten ergattern konnten und wo es mir einfach zu blöde gewesen wäre, vorm Eingang herum zu stehen um ihn beim Reingehen vielleicht aus der fünften Reihe kurz sehen zu können.

Danach kannte ich niemanden mehr, der mir Freikarten hätte besorgen können oder wollen. Außerdem wurde ich Mutter, da hatte ich wirklich andere Sorgen, als mich drei Stunden am Schalter anzustellen, um Karten für einen usbekischen Dokumentarfilm oder einen koreanischen Spielfilm mit dänischen Untertiteln zu ergattern. Alle um mich herum waren aber immer sehr im Berlinalefieber. Manche Leute sieht man während des Festivals überhaupt nicht mehr, die rennen nur von einem Kino zum nächsten. (Im Grunde ist das ein Traum für mich. Ich liebe Filme!)
Dann rief mich gestern meine Nachbarin an. Sie hat das System, Tickets über das Internet zu kaufen, über die Jahre durchdrungen und systematisiert. Sie hat massig Tickets erstanden. Manche wollte sie dann später eigentlich gar nicht und hat sie an ihre Zahnärztin und andere Freunde verschenkt. In manche Filme wollte auch ihr Mann auf gar keinen Fall mit ihr gehen.
Sie rief mich also an, weil heute morgen um halb zehn wieder so ein Film lief, den ihr Mann nicht sehen wollte. Ich schon!
Wir sahen um halb 10 Uhr morgens (und alleine das fand ich schon so herrlich, um diese Uhrzeit an einem normalen Werktag ins Kino zu pilgern) einen bosnischen Spielfilm mit englischen Untertiteln und er war richtig gut! Die Darsteller waren Laien, die eine wahre Geschichte aus ihrem Leben nachspielten. Es war ein vollkommen unvoyeuristischer Film, der in keinster Weise nach Effekten haschte. Er zeigte einfach, wie eine bosnische Romafamilie (über-) lebt. Man war ganz nah dabei, als sich eine Lebenssituation dieser Familie ohne jedes Drama, ohne jedes Pathos schlicht und einfach entrollte. Sie hätte in den Tod führen können und tat es nicht. Das war am Ende der Tatsache zu verdanken, dass der Vater clever war. Die ganze Familie hat wunderbar "gespielt". Ich stelle es mir so schwer vor, einfach man selbst zu sein, während ein Filmteam im eigenen Wohnzimmer ist. Aber ihnen gelang es. Es gab nicht einen peinlichen Moment in dem ganzen Film.

Ich nehme drei Sachen für mich mit aus diesem Film, aus diesem Tag: 1. ich werde die Roma, die am Kottbusser Tor stehen und mich ständig nerven, weil sie mir Herzen auf die Autoscheiben malen und dann meine Fenster für ein paar Münzen putzen wollen, ab jetzt mit anderen Augen sehen. 2. ich werde morgen zum Kino International gehen, mich, wenn es sein muss, drei Stunden in die Schlange stellen und hoffen, dass ich für Sonntag noch zwei Karten ergattere, im Grunde egal für welchen Film. Ich möchte meiner Tochter nur einfach nicht länger dieses Festival vorenthalten, das seit Jahren vor ihrer Nase stattfindet. 3. Ich werde nächstes Jahr gemeinsam mit meiner Nachbarin die Kunst der Kartenvorbestellung per Internet perfektionieren, mir eine Woche Urlaub nehmen (meine Tochter darf auch mal Schule schwänzen) und ich werde mir mindestens, aber mindestens zehn Filme ansehen...wenn nicht mehr!
(4. aber das ist mir gerade erst eingefallen, werde ich mir vielleicht nächstes Jahr auch eine Berlinaletasche kaufen)

Nachtrag vom 16.2.2013: Die Preise der 63. Berlinale wurden heute Abend bekannt gegeben. Der Film, den wir sahen, "An Episode in the life of an Iron Picker" hat den Großen Preis der Jury, einen Silbernen Bären, gewonnen!!!! Freut mich sehr! Mensch, da gehe ich einmal auf die Berlinale und lande gleich einen Volltreffer. Und es kommt noch besser: Der Mann, der sich und seine Geschichte selbst gespielt hat,Nazif Mujic, hat ebenfalls den Silbernen Bären als Bester Darsteller gewonnen! Ich bin begeistert!!!

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