"Es gibt Augenblicke, in denen die Hohlheit, in der man sich leben fühlt, die Dichte eines positiven Zustands erreicht."
Ich finde, man muss Pessoa lieben für solche Aussagen. Ich stehe am Ufer des Tejo und denke: GENAU!
Oder auch diese: "Wir sind, wer wir nicht sind, und das Leben ist behende und traurig." Ich beobachte den Sonnenuntergang über Lissabon von einem der wunderschönen Aussichtpunkte, genannt Miradouros, und habe keine Einwände.
Er ist weiß Gott kein positiver Mensch gewesen, schließe ich aus seinen Schriften. Manchmal lege ich sein Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares etwas genervt aus der Hand und denke Dinge wie: "Boah, was für ein Runterzieher." Ich fühle mich zurück versetzt in die besten Zeiten meiner persönlichen Welt-, Selbst- und Lebenshinterfragung, ich trug damals grundsätzlich schwarze Klamotten und obwohl sie mir nicht schlecht standen, ganz ehrlich, eigentlich möchte ich dort nicht mehr hin zurück. Dann wieder schwimme ich jedoch begeistert von Seite zu Seite und kann nicht genug bekommen von seiner Art, die Welt zu betrachten und seiner wunderbar klingenden Prosa. Er bleibt niemals an der Oberfläche. Er ist einer dieser Menschen, die bereit sind, sich in die Tiefe des Menschseins zu stürzen, Kopfüber, das ist, was ich an ihm schätze. Er taucht hinunter und kommt mit seinen Schätzen zurück aufs Papier. Vor allen Dingen hier in Lissabon kann ich ihn noch besser verstehen und wenn ich durch "seine" Straßen laufe, bekommt alles eine getragene Tiefenschärfe, die ich im Alltag, der notwendig an der Oberfläche bleibe muss, um ein gewisses Funktionieren zu garantieren, selten finde."Leben heißt ein anderer sein. Es ist nicht einmal möglich zu fühlen, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen - heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern das verlorene Leben war." Oder?
Heute war ich in dem Haus, in dem er die letzten 15 Jahre seines Lebens verbracht hat. Es ist ein Museum hier in Lissabon und heißt Casa Fernando Pessoa. Man kann dort einige seiner Besitztümer besichtigen, Manuskriptseiten, eine Fotoausstellung mit Motiven inspiriert durch seine Worte, sein Bett, seinen Hut, eine ausgedrückte Zigarettenkippe und Asche (ich bezweifle, dass sie noch von ihm stammen könnten, aber ich war trotzdem beeindruckt).
Richard Zenith, der Pessoas Werke, aber auch die vieler anderer portugiesischer Autoren, ins Englische/Amerikanische übersetzt, las aus Pessoas Werken, hauptsächlich Gedichte seiner verschiedenen Heteronyme, und beantwortete Fragen des Publikums.
Besonderes Interesse fand die Tatsache, dass Pessoa eben so viele verschiedene Heteronyme wählte/erfand?, unter deren Namen er schrieb, die er war, oder möglicherweise allesamt nicht war. Er erfand für jeden einen ganzen Lebenslauf und schrieb als verschiedene Menschen, schlüpfte in deren Identitäten hinein, so dass er deren tiefste Seelenabgründe aufs Papier zu bringen vermochte.
"Ich bin großteils die gleiche Prosa, die ich schreibe" und es ist davon auszugehen, dass er auch als der echte Fernando Pessoa ein Leben (innen und außen) für sich auf dem Papier erfand, wie er es als Ricardo Reis, als Alberto Caeiro oder als Álvaro de Campo tat. Er war viele und niemand zugleich.
Besonders faszinierend fand ich die Erzählung über die einzige Liebesgeschichte seines Lebens mit einer gewissen Ofelia (ja, es wurde auch erwähnt, dass er vermutlich ein Leben lang Jungfrau blieb, obwohl er, bevor er Ofelia getroffen hatte, diesem Problem, also seiner Jungfräulichkeit, große Aufmerksamkeit geschenkt hatte und ihm prophezeit worden war, dass er eine Frau treffen würde, die dieses Problem lösen würde), von der nicht er sich trennte, sondern die einen Brief von einem der anderen bekam, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass Fernando Pessoa sie nicht mehr sehen könne. Sie nahm dies ernst. Sie nahm die anderen genauso ernst, wie Pessoa und berichtet in ihren Briefen sogar davon, dass zum Beispiel Ricardo Reis mit ihr und Pessoa in einem Café war. Das heißt, die Heteronyme müssen sehr sehr glaubhaft gewesen sein, nicht nur für Pessoa selbst. Sie liebte ihn. Sie lebte bereitwillig in seiner Realität und sah die Welt mit seinen Augen. Ich würde gerne wissen, was aus ihr geworden ist.
Eine andere Sache faszinierte mich noch: Pessoa war nämlich sehr an Astrologie interessiert. Er erstellte Horoskope, unter anderem für alle seine Heteronyme.
Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Pessoa so gut wie nichts. Nach seinem Tode wurden circa 24.000 Fragmente gefunden. Er war so beschäftigt damit, zu schreiben, dass ihn das Veröffentlichen scheinbar nicht so sehr interessierte. Viele der Manuskriptseiten befanden sich in einer Truhe, die noch lange im Familienbesitz blieb und heute ebenfalls, wenn es denn die echte ist, im Casa Fernando Pessoa zu besichtigen ist, gefüllt mit Manuskriptseiten, von denen ich glaube, es sind nicht die echten.
Für mich ist Pessoa ein Existenzialist und also ein Seelenverwandter Sartres. Denn auch Pessoa fand, dass es keine Festlegung gebe, dass der Mensch sich ständig neu erfinden könne, also frei sei. Er tat dies mit äußerster Konsequenz, indem er viele war. "Wer weiß wenigstens, was er denkt oder was er wünscht? Wer weiß, was er für sich selbst bedeutet?"
Ich kann das Buch der Unruhe nicht einfach herunter lesen. Wenn ich einige Seiten hinter mich gebracht habe, sitze ich meistens auf dem Sofa oder am Schreibtisch, starre mit leerem Blick in die Gegend, aus dem Fenster oder an die Wand und meine Gedanken schweifen herum.
Ja, wer weiß wenigstens, was er denkt oder was er wünscht? Wer weiß, was er für sich selbst bedeutet? Ich nicht! "Da ich weiß, dass auch die kleinsten Dinge mit Leichtigkeit die Kunst beherrschen, mich zu foltern, entziehe ich mich absichtsvoll der Berührung der kleinsten Dinge. Wer wie ich darunter leidet, dass eine Wolke vor der Sonne vorbeizieht, wie sollte er nicht unter der Dunkelheit des allzeit verhangenen Tages seines Lebens leiden?"
Ich finde, man muss Pessoa lieben für solche Aussagen. Ich stehe am Ufer des Tejo und denke: GENAU!
Oder auch diese: "Wir sind, wer wir nicht sind, und das Leben ist behende und traurig." Ich beobachte den Sonnenuntergang über Lissabon von einem der wunderschönen Aussichtpunkte, genannt Miradouros, und habe keine Einwände.
Er ist weiß Gott kein positiver Mensch gewesen, schließe ich aus seinen Schriften. Manchmal lege ich sein Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares etwas genervt aus der Hand und denke Dinge wie: "Boah, was für ein Runterzieher." Ich fühle mich zurück versetzt in die besten Zeiten meiner persönlichen Welt-, Selbst- und Lebenshinterfragung, ich trug damals grundsätzlich schwarze Klamotten und obwohl sie mir nicht schlecht standen, ganz ehrlich, eigentlich möchte ich dort nicht mehr hin zurück. Dann wieder schwimme ich jedoch begeistert von Seite zu Seite und kann nicht genug bekommen von seiner Art, die Welt zu betrachten und seiner wunderbar klingenden Prosa. Er bleibt niemals an der Oberfläche. Er ist einer dieser Menschen, die bereit sind, sich in die Tiefe des Menschseins zu stürzen, Kopfüber, das ist, was ich an ihm schätze. Er taucht hinunter und kommt mit seinen Schätzen zurück aufs Papier. Vor allen Dingen hier in Lissabon kann ich ihn noch besser verstehen und wenn ich durch "seine" Straßen laufe, bekommt alles eine getragene Tiefenschärfe, die ich im Alltag, der notwendig an der Oberfläche bleibe muss, um ein gewisses Funktionieren zu garantieren, selten finde."Leben heißt ein anderer sein. Es ist nicht einmal möglich zu fühlen, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen - heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern das verlorene Leben war." Oder?
Heute war ich in dem Haus, in dem er die letzten 15 Jahre seines Lebens verbracht hat. Es ist ein Museum hier in Lissabon und heißt Casa Fernando Pessoa. Man kann dort einige seiner Besitztümer besichtigen, Manuskriptseiten, eine Fotoausstellung mit Motiven inspiriert durch seine Worte, sein Bett, seinen Hut, eine ausgedrückte Zigarettenkippe und Asche (ich bezweifle, dass sie noch von ihm stammen könnten, aber ich war trotzdem beeindruckt).
Richard Zenith, der Pessoas Werke, aber auch die vieler anderer portugiesischer Autoren, ins Englische/Amerikanische übersetzt, las aus Pessoas Werken, hauptsächlich Gedichte seiner verschiedenen Heteronyme, und beantwortete Fragen des Publikums.
Besonderes Interesse fand die Tatsache, dass Pessoa eben so viele verschiedene Heteronyme wählte/erfand?, unter deren Namen er schrieb, die er war, oder möglicherweise allesamt nicht war. Er erfand für jeden einen ganzen Lebenslauf und schrieb als verschiedene Menschen, schlüpfte in deren Identitäten hinein, so dass er deren tiefste Seelenabgründe aufs Papier zu bringen vermochte.
"Ich bin großteils die gleiche Prosa, die ich schreibe" und es ist davon auszugehen, dass er auch als der echte Fernando Pessoa ein Leben (innen und außen) für sich auf dem Papier erfand, wie er es als Ricardo Reis, als Alberto Caeiro oder als Álvaro de Campo tat. Er war viele und niemand zugleich.
Besonders faszinierend fand ich die Erzählung über die einzige Liebesgeschichte seines Lebens mit einer gewissen Ofelia (ja, es wurde auch erwähnt, dass er vermutlich ein Leben lang Jungfrau blieb, obwohl er, bevor er Ofelia getroffen hatte, diesem Problem, also seiner Jungfräulichkeit, große Aufmerksamkeit geschenkt hatte und ihm prophezeit worden war, dass er eine Frau treffen würde, die dieses Problem lösen würde), von der nicht er sich trennte, sondern die einen Brief von einem der anderen bekam, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass Fernando Pessoa sie nicht mehr sehen könne. Sie nahm dies ernst. Sie nahm die anderen genauso ernst, wie Pessoa und berichtet in ihren Briefen sogar davon, dass zum Beispiel Ricardo Reis mit ihr und Pessoa in einem Café war. Das heißt, die Heteronyme müssen sehr sehr glaubhaft gewesen sein, nicht nur für Pessoa selbst. Sie liebte ihn. Sie lebte bereitwillig in seiner Realität und sah die Welt mit seinen Augen. Ich würde gerne wissen, was aus ihr geworden ist.
Eine andere Sache faszinierte mich noch: Pessoa war nämlich sehr an Astrologie interessiert. Er erstellte Horoskope, unter anderem für alle seine Heteronyme.
Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Pessoa so gut wie nichts. Nach seinem Tode wurden circa 24.000 Fragmente gefunden. Er war so beschäftigt damit, zu schreiben, dass ihn das Veröffentlichen scheinbar nicht so sehr interessierte. Viele der Manuskriptseiten befanden sich in einer Truhe, die noch lange im Familienbesitz blieb und heute ebenfalls, wenn es denn die echte ist, im Casa Fernando Pessoa zu besichtigen ist, gefüllt mit Manuskriptseiten, von denen ich glaube, es sind nicht die echten.
Für mich ist Pessoa ein Existenzialist und also ein Seelenverwandter Sartres. Denn auch Pessoa fand, dass es keine Festlegung gebe, dass der Mensch sich ständig neu erfinden könne, also frei sei. Er tat dies mit äußerster Konsequenz, indem er viele war. "Wer weiß wenigstens, was er denkt oder was er wünscht? Wer weiß, was er für sich selbst bedeutet?"
Ich kann das Buch der Unruhe nicht einfach herunter lesen. Wenn ich einige Seiten hinter mich gebracht habe, sitze ich meistens auf dem Sofa oder am Schreibtisch, starre mit leerem Blick in die Gegend, aus dem Fenster oder an die Wand und meine Gedanken schweifen herum.
Ja, wer weiß wenigstens, was er denkt oder was er wünscht? Wer weiß, was er für sich selbst bedeutet? Ich nicht! "Da ich weiß, dass auch die kleinsten Dinge mit Leichtigkeit die Kunst beherrschen, mich zu foltern, entziehe ich mich absichtsvoll der Berührung der kleinsten Dinge. Wer wie ich darunter leidet, dass eine Wolke vor der Sonne vorbeizieht, wie sollte er nicht unter der Dunkelheit des allzeit verhangenen Tages seines Lebens leiden?"
An diesem Denkmal für Pessoa laufe ich zur Zeit täglich vorüber |
© Susanne Becker
Hallo liebe Susanne,herzlichen Dank für Deinen - wie immer für mich äusserst anregenden <3 - Text ! Im Zuge meiner Lissabonvorfreude -, vorbereitung werde ich mit Sicherheit das ein oder andere Werk von ihm zur Hand nehmen.... Übrigens: The Folded Clock" von Heidi Julavitis war/ ist ein Volltreffer für mich, ich liebe,es zu lesen !! Danke nochmals für diesen Tipp :-)
AntwortenLöschenHoffentlich erreichen Dich meine Zeilen hier überhaupt... Ein schönes 1.Adventswochenende wünsche ich Dir jedenfalls,
liebe Grüsse,
Susan
Liebe Susan, das ist ja toll!! Dass Du mir auch hier wieder begegnest. Der virtuelle Raum ist einfach wie eine große, schöne Kneipe, an den guten Tagen. Danke für Deine lieben Worte und ich lese übrigens gerade 4 3 2 1 von Paul Auster. Obwohl ich manchmal verwirrt daraus auftauche, gefällt es mir doch sehr gut! Vielleicht stelle ich mal eine Liste an Büchern zusammen für Lissabonreisewillige :-) habe da noch ein paar gute Tipps.
LöschenAuch Dir ein wunderschönes Wochenende
Herzlich
Susanne
Ja, diese Möglichkeiten des Internets sind absolut super- den Kneipen-Vergleich mag ich ^^ !
AntwortenLöschenVor 4 3 2 1 hufe ich irgendwie ein bisschen zurück; allerdings könnte es sein,dass eine Buchbesprechung von Dir auch hier wieder "Schuhlöffel-Effekt" hätte ;-) ...
Oh, eine Leseliste für Lissabonreisewillige von Dir, das wäre richtig genial; würde mich sehr freuen,wenn Du dazu Zeit & Lust hättest !!
Alles Liebe,
Susan
Arbeite schon daran, also an der Lissabon Liste und auch an der Auster Besprechung.
LöschenGanz liebe Grüße und einen schönen Sonntag Dir
Susanne