Herero von Gerhard Seyfried ist ein Roman, der sich mit dem Hereroaufstand 1903 in Namibia beschäftigt.
Es geht darin um den frisch verwitweten Kartographen Carl Ettmann, der im Jahre 1903 von Berlin nach Namibia, das damals noch Deutsch-Südwestafrika hieß, fährt, um dort vor seiner Trauer zu fliehen. In Windhoek soll er eine Stelle antreten. Kaum ist er aber in Swakopmund gelandet, bricht der Hereroaufstand aus und er wird rekrutiert, in eine Uniform der kaiserlichen Armee gesteckt und befindet sich im Zug Richtung Kampfgebiet.
Zur gleichen Zeit wie er erreicht die Fotografin Cecilie Orenstein das Land. Sie soll Fotos in der deutschen Kolonie für einen Bildband machen, um die Besiedlung dort anzuregen, um Deutschen dieses Land schmackhaft zu machen. Die beiden lernen sich kurz in Swakopmund kennen, finden Gefallen aneinander, dann muss Ettmann an die Front. Kurze Zeit danach bricht auch Cecilie ins Kampfgebiet auf, wobei ihr die Gefahr, in die sie sich begibt, nicht wirklich bewusst ist. Später treffen sich die beiden wieder. Wobei es niemals um eine Liebesgeschichte geht. Teil des Buches ist diese Liebesgeschichte, aber sie wird mit viel zu großem Abstand geschildert, um einen als Leser packen zu können. Das ist auch nicht die Absicht des Autors, unterstelle ich, ihm ging es von Anfang an um historische Tatsachen und deren Vermittlung in einem Roman.
Seyfried erzählt die Geschichte dieses Kapitels deutscher Geschichte aber nicht nur aus Ettmanns und Cecilies Perspektive, sondern gibt auch den Hereros eine Stimme. Das sind vielleicht die Abschnitte, die mich am meisten berührt haben. Er schafft es, eine Vergangenheit durch viele verschiedene Stimmen ganz lebendig zu machen. Beim Lesen war es für mich leicht, in die verschiedenen Personen zu schlüpfen. Obwohl Seyfrieds Sprache nicht besonders kunstvoll ist, sondern eher simpel und trocken, zog es mich vom ersten Moment an magnetisch in die Geschichte. Das mag daran liegen, dass die Landschaftsbeschreibungen mich an meine eigene Reise vor zweieinhalb Jahren erinnerten. Die endlosen Märsche durch die trockenen Riviere, das Klima, der Sand, die Hitze - all das konnte ich mir genau vorstellen, weil ich an einigen der Schauplätze gewesen war. Auch Swakopmund, das natürlich mittlerweile eine kleine Stadt geworden ist, liegt aber dennoch immer noch so schutzlos zwischen Wüste und Meer, dass man sich seine Anfänge mitten im Sand genau vorstellen kann.
Ich mochte das Buch auch aus anderen Gründen, denn es regte mich auf vielen Ebenen zum Nachdenken an: Es machte für mich zum einen deutlich, wie ein Krieg entsteht, und dass die meisten Menschen, die dann hinein geraten, im Grunde nichts damit zu tun haben. Das wusste ich auch vorher theoretisch, aber das Buch hat es mir lebendig gemacht durch die Schicksale zum Beispiel der jungen Marinesoldaten, die sich plötzlich in der Wüste wiederfinden , und letztlich keine Ahnung haben, was sie dort sollen, und der Hereromütter, -kinder und -älteren, die am Ende von der deutschen Armee in die Wüste getrieben werden, um zu verdursten.
Es ist Schicksal für viele Menschen, dass ein Krieg, den sie nicht gewollt haben, den sie vielleicht sogar versucht hatten zu verhindern, ihr gesamtes Leben zerstört und die Menschen vernichtet, die sie lieben. Während ich das Buch las, hoffte ich immer wieder gegen jede Vernunft, denn ich weiß ja, wie die Geschichte tatsächlich verlaufen, dass die Deutschen Vernunft annehmen und dieses Land wieder verlassen würden oder zumindest partnerschaftlich (im Grunde unmöglich) mit den Afrikanern leben könnten. Aber natürlich sind sie Eindringlinge in einer Welt, in der sie nichts zu suchen haben, die sie nicht verstehen.
Das Buch zeigt nicht nur, wie ein Krieg entsteht. Es zeigt auch, wie Kolonialismus funktioniert. Als ich in Namibia war, traf ich Menschen, die dort für Hilfsorganisationen arbeiteten, die sich durch diesen Job ein wunderbares Leben mit riesigem Haus und Pool leisten konnten in einem Land, das wie ein Paradies ist und sie redeten über die Schwarzen, als handelte es sich bei ihnen um dumme, unzurechnungsfähige Kinder, die uns Lichtjahre unterlegen sind. Das war im Jahr 2010. Diese Schwarzen lebten zu großen Teilen in Slums und hielten die Häuser und Gärten dieser Angestellten von Hilfsorganisationen für ein niedriges Gehalt in Ordnung. Ich habe auch Menschen dort getroffen, meine Freunde zum Beispiel, die ganz anders waren. Aber ich glaube, es ist für Amerikaner und Europäer immer schwierig, sich in Afrika nicht wie ein Kolonialist aufzuführen.
Einer meiner liebsten Charaktere in dem Buch ist der Herero Petrus, der versucht, einige Hererostämme von der Teilnahme am Aufstand abzuhalten, weil er durch den sterbenden Seher Ezechiel erfahren hat, dass der Aufstand das gesamte Volk der Hereros vernichten wird.
An einer Stelle, mittlerweile ist sein Versuch, die anderen von der Teilnahme abzuhalten, gescheitert, sieht er, wie sich die deutschen Soldaten ihrem Lager durch die Ebene nähern. "Das ist ihr Wind und ihr Morgen in ihrem Land! Und die da unten kommen von weit her und machen sich breit und nehmen sich das Land und ihr Vieh, ihre guten Ozongombe, für Plunder und Schnaps!
Warum bleiben sie nicht dort, wo sie herkommen, dort, wo ihre eigenen Herden weiden? Darüber wird viel nachgedacht..." Ich liebte Petrus' Demut und wenn ich die Wahl gehabt hätte, einen der Charaktere zu treffen für ein langes Gespräch, so wäre er es gewesen.
Das Buch zeigt viele Seiten, die der Hereros, die der einfachen Soldaten, die der Generäle, die der deutschen Siedler. Es entwirft ein komplexes Bild, dass es mir möglich machte, mir die Welt Deutsch-Südwestafrikas vorzustellen. Dabei wertet das Buch nicht, es schlägt sich auf keine Seite, es moralisiert nicht. Seyfried gelingt es für mein Empfinden, die Dinge einfach zu zeigen, kühl und klar, trocken und schnörkellos erzählt er nach jahrelanger Recherche, was geschehen ist. Einen Standpunkt einzunehmen, überlässt er dem Leser selbst. Sind doch auch Cecilie und Carl letztendlich immer ein wenig ratlos, ein wenig überfordert mit der Einschätzung dessen, woran sie dort eigentlich teilnehmen und wie sie dazu stehen. Sie stehen auf der Seite des gesunden Menschenverstands, das hilft ihnen aber nicht dabei, alles richtig zu machen.
So zeigte mir das Buch noch eine dritte spannende Sache: dass Menschen, die in einem historischen Moment verwickelt sind in Geschehnisse, die mit hundert Jahren Abstand eindeutig und einigermaßen klar zu bewerten sind, während sie stattfinden nicht eindeutig zu bewerten sind. Die eigene Position, die Gefühle, die Wünsche beeinflussen, wie man etwas sieht. Auch die Erziehung, die allgemeine Sicht auf die Dinge, die um einen herum herrscht.
Leider ist das 2003 zuerst erschienene Buch vergriffen. Man kann es allerdings noch gebraucht kaufen (oder leihen, bei mir zum Beispiel).
Nachtrag vom 2.10.2016: Leider ist das Buch immer noch vergriffen. Vielleicht könnte der Gedanke, jetzt hat sich Deutschland bei Namibia für den Völkermord entschuldigt, auch dazu führen, in quasi freier Assoziation, das Buch noch einmal neu aufzulegen?
Nur ein Vorschlag! Denn es ist wirklich gut. Ansonsten stehe ich weiterhin bereit, falls es jemand leihen möchte. Mail an mich genügt!
(c) Susanne Becker
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