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Corona Tagebuch (7)


Und dann kommst du in den Bioladen (Biotopia), in dem Du einkaufst, seitdem die Kinder Babies sind, und die Theke ist plötzlich, verbreitert um ca. 1,5 m durch eine gewagte Konstruktion und abgedeckt mit einem schimmernden roten Samttuch, praktisch an der Eingangstür. Und du bewunderst diese Helden, die jeden Tag das Risiko eingehen, sich anzustecken und du beschließt, solange du noch darfst und solange sie sich das antun, nur noch bei ihnen einzukaufen. Alle sind so ein bisschen linkisch, weil plötzlich gibt man sich Geld und Karte über einen silbernen Teller und vermeidet jede Nähe. Das ist in Kreuzberg so ungewöhnlich, dass natürlich auch gleich wieder eine unbedarfte Kundin sich praktisch an mich schmiegt und ihre Ware schonmal auf meine drauflegt, um mir über die Schulter dabei zuzuschauen, wie ich meine Geheimnummer eingebe. Naja, Kreuzberg halt.

Vorgestern Abend begann ich das Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ von Judith Schalansky und ich finde, vom Titel her passt es gerade 1a.
Was verliere ich gerade? Der krasseste Verlust ist der jenes Gefühls am Morgen, beim Aufwachen, dass mir die ganze Welt offensteht. Dieses Gefühl habe ich schon immer gehabt, weil es auch schon immer stimmte. Beim Yoga heute morgen kamen Bilder und Gerüche, Gefühle von Landschaften, in denen ich war. Sie fluteten mich geradezu: Lissabon, Sizilien, Köln, Andalusien, New Mexico, die Uckermark. Es erfasste mich eine unsägliche Sehnsucht. Auch nach den Menschen, die in diesen Orten sind. Dass ich zum Beispiel meine Freunde in Österreich oder meine Familie in Nordrhein-Westfalen, vor allem die heiß geliebten Mitglieder in der Eifel 😘 oder die Seelenfamilie in Richmond/Virginia nicht besuchen könnte, selbst wenn ich wollte. Wie lange? Weiß nicht wirklich jemand, wenn wir ehrlich sind.
Das Zebra und die roten Funken, als die Welt noch normal war

Ich war in diesem Jahr bereits auf einer Karnevalssitzung, und es war meine allererste und ich poste hier mal ein Foto, also ein Selfie. Ihr könnt darauf erkennen, dass ich ein Zebra war, und ich war nicht das einzige Zebra, sondern meine Cousinen und meine Tante waren auch Zebras. Wir waren also eine Art Zebraherde. Die Herren hinter mir kenne ich nicht, aber es sind echte rote Funken und die sind deshalb im Bild, weil das eine Sitzung der Roten Funken war.
Wenn ich dieses Bild jetzt anschaue, kommt es mir vor, als wäre es vor 50 Jahren aufgenommen worden, damals, wisst Ihr noch, als wir noch nicht in unsere Wohnungen eingesperrt waren? Als wir morgens noch aufwachten und uns die Welt offen stand.
Wenn ich dieses Bild jetzt anschaue, muss ich immer noch lachen, weil alle darauf so unglaublich blöd aus der Wäsche schauen. Das ist das Allerbeste an dem Foto, dass es mich heute zum Lachen bringt. Ich hoffe, es bringt Euch auch zum Lachen. Danke Vergangenheit, für all die Erinnerungen.

Was man also nicht verliert, sind die Erinnerungen. Wobei Judith Schalansky zu Recht schon im Vorwort erwähnt, dass es schrecklich wäre, wenn man nichts vergessen könne. Das wäre Folter. Dann wäre man in einer Endlosschlaufe dessen gefangen, was schon war. Man muss auch einige Dinge vergessen, damit Platz für das Jetzt ist. 

Eine alte Schulfreundin von mir lebt in Heinsberg, übrigens, dem Epizentrum in Nordrhein Westfalen, wo es nach einer Karnevalssitzung Coronamäßig eskalierte. Sie schrieb mir heute dies und ich wollte es Euch nicht vorenthalten:

"Liebe Susanne, mir geht's gut, obwohl hier keiner mehr sicher weiß, ob er bereits erkrankt war oder nicht. Aber ist ja auch egal, Hauptsache die Menschen sterben nicht weg. Mir geht's ähnlich wie dir, anfangs hält man vieles für überzogen, doch als ich die ersten Bilder und Berichte aus Italien gesehen/ gehört habe, flossen die Tränen. Ich hoffe nur, dass jetzt auch die letzten aufwachen. Hier ist jetzt echt heftig und geschockt war ich vorgestern als unser Landrat mitteilte, dass der Kreis Heinsberg weder Unterstützung von der Bundeswehr bekommt noch Unterstützung bei der Betreuung von Kindern von Ärzten und Pflegepersonal. Bei uns lohnt sich das anscheinend nicht mehr, ich weiß es nicht....."

Dann hat sie mich noch darüber aufgeklärt, dass ihre Weinvorräte Gott sei Dank noch für ein paar Wochen reichen, was mich fast in eine Krise stürzen könnte. Denn am Aschermittwoch hat das Zebra beschlossen, mal zu fasten. Und was fastet das Zebra? Alkohol :-( Weiß nicht, manchmal finde ich es krass, die ganze Zeit all das hier nüchtern zu erleben. Dann gibt es Momente, da sehne ich mich entsetzlich nach einem Glas Wein, Quatsch: nach einer Flasche.
Aber dann denke ich wieder: natürlich schaffe ich auch gerade Erinnerungen, die mich dann später daran denken lassen, welche unglaublich tiefen Gespräche und Kontakte ich zum Beispiel in der letzten Woche hatte, oft per Whatsapp oder Mail, dieses im digitalen Raum total nah zusammen rücken. Verrückterweise könnte es sein, dass ich in der letzten Woche mehr kleine, zufällige Glücksmomente hatte, als in den Wochen davor. 

Audible hat die Paywall gefällt. Das heißt, jeder kann dort kostenlos Podcasts, Hörbücher etc. hören.
Auf das Buch von Schalansky werde ich nochmal hier zurück kommen, glaube ich. Habe erst 20 Seiten gelesen, würde es aber jetzt schon extrem empfehlen.

Mehr weiß ich heute nicht. Die Ausgangssperre wird kommen. Das wisst Ihr alle, und wir halten uns dann hier gegenseitig bei der Stange, abgemacht?

Stay well, geliebte Ragazzi und Companeras, wir werden uns alle gesund wiedersehen. In dieser Freiheit, die ich mein Leben lang nicht zu schätzen wusste, weil sie so normal war.

(c) Susanne Becker



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