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Die Liebe ist nicht für immer aus Schwäne lieben anders


Die Liebe ist nicht für immer - Gertrud


Die Liebe ist nicht für immer. Es ist so komplett und unwiderruflich möglich, aus Gertruds Liebe herauszufallen wie aus einer Tasche, die unten ein Loch hat und keiner bemerkt es und man verliert einen Teil des Tascheninhalts und merkt es dann doch, aber erst wenn es viel zu spät ist. Wenn man es dann bemerkt, sind die wichtigen Dinge längst herausgefallen durch das Loch. Zurück bleiben Taschentücher, frische und gebrauchte, die man im Grunde nicht mehr voneinander unterscheiden kann, Papiere von Hustenbonbons und eine Kaugummipackung, die man vor zwei Jahren auf einer Fahrt nach Holland an einer Raststätte gekauft hatte, damit man dem Kind etwas anbieten konnte, wenn ihr wieder schlecht wurde. Läuft man die Strecke hektisch wieder zurück auf der Suche nach den verlorenen Gegenständen, dem teuren Lippenstift von Douglas, der zwar schon ranzig schmeckt, man benutzt ihn ja auch kaum, aber er war teuer, das einzige, was man je bei Douglas in Köln auf der Hohe Straße gekauft hat, die Hausschlüssel (natürlich, die fallen ja immer als erstes raus), die kleine Börse mit dem ganzen Geld fürs einkaufen (man hatte sich absichtlich eine so kleine Börse zugelegt, damit man endlich nicht mehr immer mit diesem Riesenteil zum Einkaufen gehen musste, mit dem man an der Kasse wie eine Kellnerin aussah), sind die Sachen längst aufgehoben von einem anderen, einem zufällig Vorübereilenden. Verlust ist eigentlich nichts schlimmes, wenn man an eine Gesetzmäßigkeit glauben kann – dass nämlich die Dinge zu den Menschen hinstreben, zu denen sie gehören. Warum Gertruds Hausschlüssel zu jemand anderem streben, darüber könnte sie eine ganze Philosophie ergrübeln, die in der Konsequenz möglicherweise zu einer Kurskorrektur ihres Gesamtlebens führen würde, also verkneift sie es sich. Wenn aber jemand ihre Liebe verliert, Gertruds Liebe, dann würde sie sagen und sich gutwillig und mutwillig dem Vorwurf der Simplifizierung hingeben, gehört sie offensichtlich nicht zu ihm. Sie ist im Grunde nicht verantwortlich dafür, also für ihre Liebe. Wenn sie selbst ihre Liebe verlöre, würde sie auch daraus kein allzu großes Drama machen. Sie gehörte dann eben nicht zu ihr.
Vielleicht war sie nicht dazu geboren, ewig zu lieben.
Als er auf sie zukam, beim Tanz damals, sie hatte ja schon von ihm gehört, der schmucke Rudolf, den die SS haben wollte, weil er groß war, blond und blauäugig und der sich geweigert hatte, ihrem Ruf zu folgen, da hatte sie sich nicht mit einem Gedanken der Ewigkeit verschrieben. Sie hatte nur an diesen einen Tanz gedacht, und daran, dass er offensichtlich mutig war und seine Prinzipien nicht einfach so über Bord warf, dann an den nächsten Tanz und da er ein guter Tänzer gewesen war, wollte sie immer weiter mit ihm tanzen. Sie wollte auch ein Kind mit ihm. Gott, sie hatte nicht gewusst, warum sie es wollte. Es war verlockend, in diesen Zeiten ein Kind von jemandem zu bekommen, der sich widersetzte, wenn auch in überschaubarem Rahmen. Das flößte ihr die Hoffnung ein, dass auch ein gemeinsames Kind nicht ganz rückgratlos würde sein können. Kann man die Liebe festhalten? Klügere Menschen als sie, die konnten das bestimmt. Sie konnte es nicht. Für sie war die Liebe ein glücklicher Zufall, ein Geschenk, und wie gewonnen so zerronnen. Würde ihr jemand den Trick sagen, es wäre doch zu spät. Sogar ihre Tochter, ihr einziges Kind, war heraus gefallen aus ihrer Liebe. Einfach so, mit einem Purzelbaum, da war sie dreizehn gewesen. Gertrud hatte es ihr nie gesagt, natürlich nicht. Als diese Tochter dann ihr Kind verlassen hatte, da war Gertrud natürlich sofort die Kausalkette klar gewesen. 
Als sie das Nähen entdeckt hatte, war es wie eine Freundin gewesen. Man kann mit einer Decke aus einzelnen Quadraten seine ganze Lebensgeschichte erzählen, stellte sie fest. Vor allem sich selbst konnte man sie erzählen, und auf eine Weise deuten, mit der man Frieden schließen konnte. Sie enthielt all die Zeit, die man im Leben nicht erübrigen konnte, um sich um sich selbst zu kümmern. Sie enthielt auch all die Stoffreste, die im Laufe einer Lebensspanne so anfielen. Alte Karnevalskostüme, alte Bettwäsche, Tischdecken, zerschlissene Kinderkleidchen, alles. Die Zettel, die kamen ganz schnell. Für wen Gertrud sie schrieb? Für die Zukunft. Für die Ewigkeit. Aber im Grunde schrieb sie sie immer nur für sich selbst und nähte sie ein, in jedes Quadrat einen Zettel. Damit das, was anstelle ihrer Liebe ihr Leben bevölkerte, nicht verloren gehen sollte. Illusion. Natürlich. Unter Umständen ein Rätsel für den, der es entdecken würde. Es machte ja nichts, verloren zu gehen, nicht für Gertrud und auch nicht für die Liebe.
Wenn man zu feige ist, die Wahrheit auszusprechen, dann hat das auch nichts mit Liebe zu tun. Es gibt kein mit-einander mehr. Das einander gehörte dann plötzlich zur gräblichen, zur vergrabenen Stille eines befriedeten Hofs, auf dem die Hühner leblos herumlagen und schon lange keine Eier mehr legten. Das einander war dann nur noch zu verbinden mit konträren Ausdrücken wie gegen oder ohne.
Gegeneinander in den Alltag hinein zu leben, ohne Berührungen allzu auffällig zu vermeiden, ohne sie aber auch herbeizuführen. Ohne einander in den Alltag hinein zu leben, ohne sich auch anzublicken. Denn die Blicke sind es ja, die einen verraten.
Einander aus Feigheit die Wahrheit verschweigen, das kann eine Beziehung zusammenhalten bis zum Ende der zählbaren Tage. Die Kunst ist es, darüber nicht bitter zu werden. 



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