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Corona Tagebuch (19)


"If we retreat, regain strength in retreating. Then we come out stronger than we were before." 
Louise Bourgeois.

Diesen Satz hatte ich im Januar irgendwann in mein Tagebuch geschrieben. Wenn wir uns ganz zurückziehen, können wir in diesem Rückzug unsere Stärke zurück gewinnen und stärker denn je aus dem Rückzug hervortreten. Ich hatte damals keine Ahnung, wie prophetisch meine Worte waren, wie extrem wir alle in einen Rückzug gezwungen werden würden

Bilder von Präsenz und Stille erschaffen. Auch mit Worten.
Wie wir unsere Tage füllen, so füllen wir unser Jahr.
Ein Jahr wie ein ganzes Leben und doch völlig leer.

Ich langweile mich schnell. Eine Unruhe greift nach mir und ich möchte, dass etwas in meinem Leben geschieht, etwas wunderbares, etwas großes. Wenn nichts geschieht, denke ich mir Dinge aus. Irgendwer, war es ein buddhistischer Lehrer oder ein Dichter, sagte einmal: die tollsten Geschichten sind mir nur in meiner Phantasie passiert.
Das könnte von mir sein. Das könnte ich sein.

Fischerinsel: Eine junge Frau in einem Rollstuhl steht am Gitter eines Basketballplatzes, auf dem ein paar Jugendliche spielen. Sie ruft: Hey! HEY! HÖRT IHR MICH? Habt ihr ein bisschen Gras für mich? Sie wirkt unglaublich verzweifelt. HABT IHR EIN BISSCHEN GRAS FÜR MICH. Die Jugendlichen halten kurz inne: Nö, haben wir nicht. Und spielen weiter.
Sie tut mir so leid. Für einen Moment, als ich an ihr vorüber radele, wünsche ich, ich hätte etwas Gras für sie.

Meine Freundin Annette aus dem Tagebuch (15) hat gestern übrigens einen Flug von Kathmandu nach Washington D.C. bekommen. Die amerikanische Regierung hat sie und ihre Familie ausgeflogen. Es war noch ein ziemliches Hin und Her. Sie wollten Annette, die immer noch Deutsche ist, aber seit 35 Jahren in den USA lebt, mit einem Amerikaner, die drei amerikanische Kinder hat, sie wollten sie erst nicht mitnehmen. Diese Wichtigkeit von Nationalitäten, dieses Grenzen ziehen, es fühlt sich in dieser Situation mehr denn je vollkommen falsch an.

"There is no order here
and nothing can be planned."   Nick Cave auf seinem Album Ghosteen.



Womit vergeudet man seine Tage?
Mit Dingen, die man tut, ohne sie tun zu wollen.
Diese Zeit ist vielleicht auch für viele die Möglichkeit, Dinge zu tun, die sie wirklich tun wollen.

Eine Bekannte, Fotografin, Mutter in der früheren Klasse meiner älteren Tochter, macht jeden Morgen eine fast zweistündige Hunderunde durch Berlin. Sie postet die Fotos dieser leeren Stadt auf Facebook und ich merke, wie ich mich schon jeden Tag darauf freue, sie zu sehen. So hat man Berlin noch nie gesehen. Ich denke, sie hat auch noch nie die Zeit gehabt, jeden Morgen so lange Spaziergänge zu machen.

Was ist mein Traum? Und wie realisiere ich ihn?

Hier noch ein Text für alle unter Euch, die Englisch lesen. Nick Cave beantwortet regelmäßig Fragen seiner Fans in seinen Red Hand Files. Ich lese gerne darin, weil seine Antworten ausnahmslos sehr klug und inspirierend sind. Die letzte Frage war: Was sind deine Pläne für diese Pandemie? Seine Antwort fand ich einfach nur wundervoll. Aber lest selbst.

Ich habe mir übrigens Gesichtsmasken bestellt und sie sind heute angekommen. Eine Schneiderin aus Göttingen, die ihren Laden für selbst gemachte Kleidung aufgrund der Coronakrise erst einmal schließen musste, näht und verkauft sie. Eine Maske kostet 10€ und sie sind traumschön und sehr bequem. Ich muss jetzt noch überlegen, ob ich mich damit auf die Straße traue.
Plötzlich darf man sich verschleiern, oder was?

Die Masken gibts hier Für mich gemacht Ihr könnt Nicole Sobirey per Whatsapp oder Mail kontaktieren und sie schickt Euch Muster zur Auswahl. Frisch genäht für Euch. Bei mir waren sie 4 Tage später in der Post. Alles sehr unkompliziert. Empfehlenswert👍
Denkt Ihr jetzt auch so oft wie ich, wenn Ihr in einen Laden kommt,
dass Ihr gerade Zeuge eines Überfalls werdet?


Bleibt gesund, ragazzi und companeros, passt auf Euch auf, tut etwas für Eure seelische Gesundheit. Das ist momentan die Hauptsache. May the force be with you 💪

(c) Susanne Becker



Kommentare

  1. priceless, meine Liebe. Du bist so prolific. Ich habe wieder nur kompliziert gekocht und ge-researched , na ja, muss auch sein. Lothi's Mutter näht jetzt auch welche. Unglaublich die Geschichte deiner Freundin in Nepal, so typisch ich könnte kotzen. Anderes Beispiel: sie haben in Chicago Menschen das Wasser abgestellt, und das in einer Pandemie, weil nicht bezahlt wurde. Dieses Land ist so böse. Das böse Land - eine gute Beschreibung. Jetzt ersichtlich für die ganze Welt. Take it in, this is our reality.

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    1. We are not surprised, are we now? Love you and thanks for the comments. Thats so cool!!

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