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Corona Tagebuch (26)

Heute so:

Deutschland nimmt 50 unbegleitete Flüchtlingskinder aus griechischen Lagern auf. Ich gehe davon aus, dass wird jetzt nicht als bahnbrechender Erfolg gefeiert. Vielleicht dreht man sicher eher etwas verschämt weg, wenn man die Zahl vor sich hin nuschelt.
Sachsen-Anhalts Innenminister sieht die Möglichkeit 1 (!!) unbegleitetes Flüchtlingskind in Sachsen-Anhalt aufzunehmen.

Ohne Worte.

68 AfD-Abgeordnete treffen sich gestern zu einer Sitzung in einem Sitzungssaal des Deutschen Bundestages und beschliessen, dass sie darauf dringen werden, die Corona Maßnahmen möglichst schnell zu lockern.
Es wäre natürlich ein Treppenwitz der Geschichte, wenn jetzt einer dieser Abgeordneten infiziert wäre und demnächst dann alle 68 Corona bekämen. Shit happens.

Dem Klima tut der Lockdown sehr gut. In vielen Regionen ist zum ersten Mal seit Jahren klarer Himmel. Die Luftwerte verbessern sich messbar und der Stromverbrauch sinkt.

Heute mit ein paar Menschen gesprochen. Was mich am meisten irritierte, waren die Geschichten, die mir ein Bekannter aus Berlin Schöneweide erzählte.
1. Er hat an einem Abend ein befreundetes Ehepaar besucht. Sie haben zu dritt in deren Garten gesessen und sich unterhalten. Ein Nachbar hat die fremde Stimme in diesem Garten gehört und die Polizei gerufen. Die kam und stellte fest, dass nichts ist. Ein einzelner Mensch darf zwei andere Menschen besuchen, zumal, wenn man dann zu dritt in einem Garten sitzt und den Abstand einhält.
2. In seiner Siedlung gibt es einen kleinen abgeschlossenen Spielplatz. Eines Morgens lässt ein Vater aus dieser Siedlung seine kleine Tochter schaukeln. Eine Nachbarin sieht es, ruft die Polizei. Diese kommt und sagt dem Vater, er dürfe seine Tochter nicht schaukeln lassen.

Offensichtlich fühlen sich, wie auch schon in früheren Phasen der deutschen Geschichte, Nachbarn wieder berufen, ihre Nachbarn anzuschwärzen, auszuspionieren und anzuzeigen. Das ist so schlimm. Diese Stasi-Nazi-Blockwart-Mentalität, sie erfüllt mich mit Fremdscham ohne Ende.

Immer drängender wird danach gefragt, wann die Maßnahmen endlich gelockert werden. Ich bin da eher skeptisch. Denn sobald sie gelockert werden, werden die Fallzahlen steigen. Sie dürfen niemals in einem solchen Maße steigen, dass wir hier New Yorker Verhältnisse bekommen, oder italienische. Ein unkontrolliertes Ansteigen würde unter Umständen auch zu einem Kollaps bei uns führen können. Warum fragen gefühlt alle 12 Minuten Journalisten irgendwelche Politiker zu diesem Thema, ja auch gerne und vollkommen unnötig Christian Lindner, wann die Maßnahmen gelockert werden? Warum bauen sie einen solchen Druck auf, anstatt Solidarität zu verbreiten und den Menschen das Gefühl zu geben, dass die Situation in Deutschland unser aller Erfolg ist? Weil wir es bislang geschafft haben, uns verantwortlich zu verhalten. Weil die Regierung früh genug Maßnahmen ergriffen hat, die wirken.  Warum muss anstattdessen Unruhe produziert werden (steht jetzt auch schon in der Süddeutschen: "In Deutschland nimmt der Unmut über die starken Beschränkungen zu...") Nimmt der Unmut wirklich zu oder produzieren die Medien ihn künstlich, indem sie ständig darauf herum reiten, dass wir jetzt aber lockern sollten, könnten? Wann denn endlich?
Ich persönlich kenne niemanden, dessen Unmut zunimmt. Alle Menschen in meinem Umfeld sehen die Notwendigkeit und haben den gesunden Menschenverstand, zu verstehen, dass eine Lockerung jetzt die Fallzahlen in die Höhe treiben würde.

Eine Bekannte von mir hat bereits zwei Großeltern an den Virus verloren. Ihre gesamte Familie in Bayern ist daran erkrankt.

Ich denke, ragazzi und companeros, wir müssen das hier noch eine Weile durchhalten, oder aber in Kauf nehmen, dass mehr Menschen erkranken ergo sterben. Können wir das nicht als gemeinsame Anstrengung sehen, solidarisch, voller Freundlichkeit gegeneinander? Auch voller Dankbarkeit dafür, dass wir in einem Land leben, wo die Regierung die Situation einigermaßen im Griff hat?

Seit Wochen denke ich hauptsächlich darüber nach, wie ich die Ausgangssperre kreativ und positiv überstehe. Es gelingt mir eigentlich bislang ganz gut. Ich komme gerade erst in Fahrt diesbezüglich. Aber gestern kam mir plötzlich der Gedanke, dass ja dies alles nur geschieht, damit wir nicht krank werden. Denn das kann geschehen. Jede und jeder von uns kann so ernst krank werden, dass er auf einer Intensivstation landet. Um das für so viele Menschen wie möglich zu verhindern, machen wir das hier. Schon vergessen? Ich hatte es fast vergessen. Ich hatte fast vergessen, dass ich durchaus auch krank werden könnte. Als es mir wieder einfiel, fuhr mir ein riesiger Schreck in die Glieder. Weil mir gleichzeitig einfiel, dass nicht jeder einfach so einen milden Verlauf hat.

Zum Abschluss noch ein Foto meiner Freundin aus USA, Regula Franz

Silence is the door to my voice

(oder auch: schreibt einander Briefe oder schöne Postkarten, irgendwie passt es in diese verlangsamte Zeit, findet Ihr nicht?)

(c) Regula Franz,

#tuttoandràbene May the force be with you 💪

(c) Susanne Becker





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