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Corona Tagebuch (21)

Im Grunde habe ich heute nicht viel zu schreiben. Ich war den ganzen Tag arbeiten und hatte dort sehr viel zu tun. Gedanken über "die Situation" kamen dabei gar nicht erst auf. Außer vielleicht in der Form, dass meine Arbeit, wie die von vielen vielen anderen, derzeit um einiges komplizierter geworden ist, als sie es vorher war. Das nervt natürlich mega! Aber ich bin dennoch privilegiert. Denn ich habe eine Arbeit und momentan stehen Kurzarbeit oder ähnliche Maßnahmen bei uns überhaupt nicht im Raum. Dafür bin ich in der Tat dankbar 🙏

Am Abend ein kurzer Spaziergang mit einer Freundin. Auf Abstand. Versteht sich. Sie ist alleinerziehend mit drei Kindern + Homeoffice. Ich bewundere sie, wie gut gelaunt sie meistens ist. Sie hatte seit drei Wochen keine Minute mehr für sich. Wir marschieren alle paar Tage gemeinsam am Kanal entlang und erzählen uns gegenseitig unsere Tage oder klatschen uns unsere jeweilige Stimmung kurz um die Ohren. Jeder kennt ja für sich vermutlich die Dinge, die ihn wirklich an den Rand bringen würden. Nie allein sein zu können, mich nicht zurück ziehen zu können, das wäre es ganz klar für mich. 
Uns begegneten viele Spaziergänger. Die meisten trugen eine Flasche Bier in der Hand. Einer eine Box, aus der wahnsinnig laute, wahnsinnig gute Musik drang. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie wir alle am Kanal beginnen würden zu tanzen. Das war eine ziemlich schöne Vorstellung. 
Nächste Woche sollen es 20° hier werden. Ich bin gespannt, was dann geschieht. Ich habe Angst davor, dass die Parks tatsächlich abgeriegelt werden könnten. Brandenburg will teilweise Menschen, die ihren Zweitwohnsitz dort haben, nicht mehr rein lassen. Die Frage kommt hoch: Wo soll das enden? Und wie lange soll das noch gehen? In einer Großstadt merkt man, denke ich, schneller als in kleineren Städten oder gar auf dem Land, wie der Druck in einer solchen Situation wächst, weil die Menschen kaum noch Ausweichmöglichkeiten haben. Man kann nicht ganz Berlin zuhause einsperren. Dann werden so viele Menschen ausrasten. Es wird Tote geben, da habe ich keinen Zweifel. Irgendwann müssen wir uns dann fragen, ob diese Mittel mit dem angestrebten Zweck noch in einer Balance waren.

Ein starker Gedanke, der, das wird mir gerade bewusst, den ganzen Tag wie eine leise Melodie im Hintergrund lief, war die innere Erkenntnis, dass Dinge wirklich anfangen, mir zu fehlen, und dass die Ungewissheit, wie lange diese Situation noch anhält, beginnt, an mir zu nagen.
Wie lange dürfen die Kinder nicht in die Schule? Wird es das wert gewesen sein?
Wie lange darf ich meine Freunde, meinen Bruder, meine Familie nicht sehen? Wird es das wert gewesen sein?
Wie lange werden meine Kollegen und ich nicht mehr als Team zusammen sein? Wird es das wert gewesen sein?
Wie lange halte ich es noch aus, so auf mich selbst und den engsten Kreis zurück geworfen zu sein?
Wie verändert mich das, was ich gerade erlebe? Als wer komme ich hinten raus?
Werde ich dieses Jahr in einem See baden?
Ja, die Wahrheit ist, ich finde es gerade zum ersten Mal schwer. Obwohl ich weiß, und das wurde mir im Gespräch mit meiner Freundin auch nochmal klar, wie privilegiert ich bin, wie leicht meine Situation mit derjenigen vieler vieler anderer gerade ist. Ich mag nicht jammern, denn es wäre auf sehr hohem Niveau. 

Bei uns im Haus hatte jemand Corona. Er ist jetzt wieder gesund und sein Test war heute negativ. Ich habe mit einer jungen Nachbarin Nummern ausgetauscht, damit man sich noch viel besser gegenseitig unterstützen kann, wenn etwas ist. 



Ein Freund aus Köln hat mir Musik geschickt, die er vor kurzem entdeckt hat. Ich kannte die Band nicht, Big Thief,  bin aber ziemlich angetan. Man kann diese Krise ja auch einfach nutzen, um sich gegenseitig neue Musik zu schenken und zu schicken.



Mein Freund aus dem Burgenland hat mir wieder ein Foto geschickt. Dort ist irgendwie schon Ostern, auf eine eindeutige Art und Weise, die keinen Zweifel zulässt.
(c) Robert Davis Burgenland, Ostern

Ich glotze jetzt wieder, und zwar eine Dokumentation über Joan Miró.

Machts gut und bleibt gesund Ragazzi und Companeros. #tuttoandràbene May the force be with you 💪 Bis morgen.

(c) Susanne Becker

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